Ist es dringend? Was sind Tipping-Points und wie bestimmt man die Dringlichkeit der Klimakrise?
Der Wissenschaftler und Klimaaktivist Aaron Thierry beschreibt das Verhältnis zwischen den Menschen und der Klimakriese mit folgender Metapher: «Eine Reisegruppe streift ohne Karte oder Reiseführer durch ein Minenfeld.» In dieser Analogie stellen die Minen die Kipppunkte des Klimasystems - sogenannte Tipping-Points - dar, die kurz vor dem Ausbruch stehen. Nur wissen wir weder wo sie liegen, noch wie gross ihre Wucht sein wird. Wir wissen nur, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausgelöst werden, je länger je grösser wird.
Die Natur ist voller Tipping-Points, die oft plötzlich auftreten und katastrophale Folgen haben. Erhöht sich der Nährstoffgehalt in bestimmten Seen nur gering (z. B. durch Überdüngung nahegelegener Felder), sind die vormals kristallklaren Gewässer auf einmal komplett mit Algen bedeckt und unbewohnbar. Ein bekanntes Beispiel ist auch die exzessive Jagd auf Seeotter in Nordamerika. Diese führte zur Zerstörung von wichtigen Unterwasser-Tangwäldern, da sich die pflanzenfressenden Seeigelpopulationen nach dem Verschwinden ihres wichtigsten Fressfeindes explosionsartig vermehrten.
Auch im Klimasystem gibt es plötzlich auftretende aber auch schleichende Tipping-Points. Immer mehr Forscher kommen zum Schluss, dass die von uns verursachte Erwärmung bereits einige Tipping-Points ausgelöst hat. Im Jahr 2014 veröffentlichte der NASA-Forscher Prof. Eric Rignot zusammen mit Kollegen eine Arbeit, in der er sagte, dass «Beobachtungen belegen, dass sich ein großer Teil des westantarktischen Eisschilds unumkehrbar zurückgezogen hat», was zu einem Anstieg des Meeresspiegels um bis zu einem Meter führen könnte. Und eine erst kürzlich (September 2022) erschienene, grossangelegte Studie, kommt zum Schluss, dass schon bei einer Erwärmung von 1.5 °C das «Kippen» weiterer Systeme stattfinden wird.
Beunruhigend dabei ist: Aktuell stehen wir bei einer Klimaerwärmung von 1.1 °C, welche sich im Moment alle 10 Jahre um 0.2 °C erhöht. Wenn schon ein wenig zu viel Dünger oder das Zurückgehen einer Otterpopulation dazu führen kann, dass ein See «stirbt» - was für katastrophale Folgen haben dann Tipping-Points wie z.B. der Kollaps des Atlantikstromes, von welchem die Ernährung von Millionen von Menschen abhängig ist?
Genauso wie in physikalischen und ökologischen Systemen, können auch komplexe soziale Systeme Tipping-Points aufweisen. Kann es sein, dass wir an der Schwelle zu einem massiven Wandel und der sozialen Transformation hin zu einer kreislaufförmigen Dekarbonisierung stehen und es nur noch nicht realisiert haben? Vielleicht ist alles, was nötig ist, um einen solchen Punkt zu erreichen, ein gigantischer Anstoß durch eine Massenbewegung gewaltfreier Protestaktionen? Kann künstlerisches Handeln die Menschen zum Umdenken bewegen?
Auch wenn die aktuelle Weltlage pessimistisch stimmt – der aktuelle kritische Zustand hat auch das Potential, soziale Tipping-Points loszutreten, einen Funken der Hoffnung, der vielleicht ein Feuer des Wandels entfacht.