Vergangenes multiperspektivisch kuratieren

    Wie können Objekte erinnern? Was vermögen Sammlungen zu leisten? Worin liegt ihre Verantwortung? Ein Ausstellungsprojekt des Masters Art Education in Kooperation mit der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG) und dem Winterthurer Kunstraum oxyd beleuchtete sechs Gegenstände im Detail.

    Der Winterthurer Stiftungsgründer Bruno Stefanini hinterliess nach seinem Tod im Jahr 2018 über 78’000 Objekte in der Sammlung seiner Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte (SKKG). Darunter finden sich Kunstwerke und Alltagsgegenstände von der Steinzeit bis heute, wobei einzelne davon – in ihrer Objekthaftigkeit schweigend – auf konfliktbelastete Kontexte wie etwa die nationalsozialistische Ideologie hinweisen. In einem Kooperationsprojekt haben sich Studierende der drei Vertiefungen Curatorial Studies, Kulturpublizistik und Kunstpädagogik mit dieser bis anhin mehrheitlich hinter verschlossenen Türen gehaltenen Sammlung, ihren Objekten und Bedeutungspotenzialen auseinandergesetzt. Ein Experiment, das nach künstlerisch-vermittlerischen Strategien fragte, um die Gegenstände schliesslich mit einer Ausstellung im Winterthurer Ausstellungs- und Experimentierraum oxyd zum Sprechen zu bringen.

    Bild: Ein Schminktisch aus dem Besitz von Sarah Bernhardt (1900)
    Ein Schminktisch aus dem Besitz von Sarah Bernhardt (1900). Fotos: Andri Kaufmann Janutin

    Objekte aktivieren

    In der Vertiefung Curatorial Studies des Masters Art Education stehen Ausstellungen als Orte von Bildungsprozessen mit dem Auftrag des Forschens, Sammelns, Ausstellens und Vermittelns im Zentrum. Die Idee, historische Objekte in einer Kooperation mit der ZHdK zu befragen, kam von Severin Rüegg, Leiter der Sammlung der SKKG. «Zum Zeitpunkt der Anfrage befand sich die Sammlung in einem grossen Inventarisierungs- und Reinigungsprozess», blickt Bruno Heller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Vertiefung Curatorial Studies und Projektverantwortlicher seitens ZHdK, zurück. «Unsere Auseinandersetzung mit der Sammlung war für die SKKG ein Testlauf für mögliche künftige Projekte. Die Verantwortlichen möchten in den kommenden Jahren herausfinden, welche soziale Wirkung die Sammlungsobjekte entfalten können.» Heller beschäftigt sich in seiner Lehre insbesondere mit nicht menschlichen Akteuren als Zeugen. Gemeinsam mit der SKKG stellte er ein Konvolut von 40 Objekten aus der Sammlung zusammen: Darunter befanden sich die Uniform von Charlie Chaplin aus dem Film «The Great Dictator», ein Zeichnungsheft von Albert Anker und ein Gemälde von Winston Churchill. «Es zeigte sich, dass sogenannte ‹Kontaktikonen› für das Projekt interessant sein könnten: Gegenstände, die entweder mit einer berühmten Persönlichkeit in Kontakt waren oder aber ein historisches Ereignis dokumentieren», so Heller.

    Foto: Ein Feldbett aus dem Besitz Napoleon Bonapartes.
    Ein Feldbett aus dem Besitz Napoleon Bonapartes.

    Im Seminar «Exploring the Collection of the SKKG» mit Bruno Heller und der Künstlerin Sally Schonfeldt setzten sich Studierende intensiv und diskursiv mit der Objektauswahl auseinander. Schonfeldt untersucht in ihrer künstlerischen Praxis die Beziehung zwischen oft vergessenen Geschichten und unserer Gegenwart in einem antikolonialen und feministischen Rahmen. Sind Objekte stumme Zeugen? Wie können sie aktiviert werden? Welche Verantwortung ist damit verbunden? Eine fünfköpfige Studierendengruppe aus Melissa Jetzer, Milos Stolic, Vivianne Tat, Linda Walter und Jonas Wandeler nahm sich der Aufgabe an, die Fragen und Diskurse im Austausch mit dem oxyd in ein Ausstellungsprojekt zu übersetzen.

    dekoratives Bild
    Das Porträt «Mein Vater» der Schweizer Künstlerin Hedi Zuber.

    «Die Objekte sind multidimensionale Dinge. Sie sind Akteure, Zeugen, Gespenster und Geschichten.»

    Bruno Heller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Vertiefung Curatorial Studies

    Zeugen und Gespenster

    «Zones of Potential Encounters. Eine multiperspektivische Ausstellung mit Objekten aus der Sammlung der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte SKKG» im oxyd lud das Publikum im Juli in eine vergegenwärtigte Vergangenheit ein. Diese potenzielle Begegnungszone, in kräftiger königsblauer bis pinker Farbe ausgeleuchtet, brachte sechs ausgewählte Objekte zum Wirken: den Nachlass einer Sexarbeiterin (ca. 1945 bis 1950), einen Sportanzug aus dem «Bund Deutscher Mädel» (1930 bis 1945), das Porträt «Mein Vater» von Hedi Zuber (1993), einen Schminktisch aus dem Besitz von Sarah Bernhardt (1900), die Sonnenbrille eines Crew-Mitglieds des Vorführungsteams des B-29-Bombers «Enola Gay» der U.S. Air Force (ca. 1946 bis 1950) und ein Feldbett aus dem Besitz Napoleon Bonapartes, das aus konservatorischen Gründen nur virtueller Bestandteil der Ausstellung werden konnte.

    Die sorgfältige kuratorische Rahmung liess die unterschiedlichen Objektwelten miteinander in Berührung kommen und Erinnerungen wecken. Erinnerungen an die Koalitionskriege, den nationalsozialistischen Alltag, an die Atombombe über Hiroshima, an Geschlechterrollen, ans Erinnern selbst. Ihre Verbundenheit brachte das Kurationsteam mit folgenden Worten auf den Punkt: «Die Objekte sind multidimensionale Dinge. Sie sind Akteure, Zeugen, Gespenster und Geschichten. Sie haben ihre eigenen Reisen hinter sich und komplexe Beziehungen zur Welt.»

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