Dirigieren heisst Haltung einnehmen

Ein Konzert ohne Publikum: Dieses Bild ist in Zeiten der Pandemie nicht ungewöhnlich. Livestreams erreichen zwar viele Menschen, doch das Konzerterlebnis ersetzen sie nicht. Im Herbst konnten die Studierenden beim Orchesterkonzert «Titanen» in der Tonhalle Zürich wieder einmal vor vollen Rängen spielen.

Bild: Prof. Johannes Schlaefli dirigierend
Das Vermitteln von Musik im Moment macht eine Liveperformance aus: Prof. Johannes Schlaefli, Leiter der Dirigierklasse an der ZHdK. Foto: Tobias Frick

«Ein Prachtstück» – so nennt Prof. Johannes Schlaefli, Leiter der Dirigierklasse an der ZHdK, die seit 2021 renovierte Tonhalle Zürich: «Der Klang erhält hier plötzlich eine Aura», schwärmt er. Seit vielen Jahren bietet sich ZHdK-Musikstudierenden dank einer Kooperation mit dem Tonhalle-Orchester Zürich die Möglichkeit, Orchesterkonzerte vor grossem Publikum zu spielen. «Die Umbauten haben die Tonhalle optisch und akustisch aufgewertet. Ein Auftritt der Studierenden in diesen heiligen Hallen ist immer ein aussergewöhnliches Erlebnis. Das Publikum hat einen enormen Anteil am energetischen Austausch», weiss Schlaefli, unter anderem Chefdirigent des Sinfonieorchesters Collegium Musicum Basel, aus Erfahrung.

«Die wichtigen Werke der musikalischen Weltliteratur wurden vermehrt so adaptiert, dass sie auch mit wenigen Instrumenten kaum an Qualität verloren.»

Prof. Johannes Schlaefli, Leiter der Dirigierklasse an der ZHdK

Via Bildschirm lehren ist nahezu unmöglich

Seit 1999 unterrichtet Schlaefli Dirigierstudierende. «Ein Stück lernen, es verstehen, es mit einem Orchester erarbeiten und schliesslich vor Publikum überzeugend darbieten: Darum geht es», fasst er seine Haupttätigkeit zusammen. Besonders im Partiturstudium sei es wichtig, dass die Studierenden eine Haltung entwickeln – gegenüber dem Stück, aber auch gegenüber dem Publikum. «Dirigieren am Bildschirm zu lehren, ist praktisch unmöglich», erklärt Schlaefli, der den Effort der ZHdK sehr schätzte, trotz der Pandemie so schnell wie möglich zum Präsenzunterricht zurückzukehren. Die strengen Auflagen erforderten Kreativität und Disziplin, sie stellten aber auch sicher, dass die Lernziele des Curriculums erreicht werden konnten.

Bild: leere Tonhalle
Tonhalle Zürich. Foto: Georg Aerni

In der Dirigierwelt wird üblicherweise über viele Jahre im Voraus geplant. Mit der Pandemie gab es erst Absagen, danach wieder kurzfristige Ansagen unter immer wechselnden Bedingungen. «Als wir zum ersten Mal wieder mit fünf Streicherinnen und Streichern üben konnten, war das schon eine Sensation», erinnert sich Schlaefli. Er kann der Pandemie aber auch etwas Positives abgewinnen: «Die wichtigen Werke der musikalischen Weltliteratur wurden vermehrt so adaptiert, dass sie auch mit wenigen Instrumenten kaum an Qualität verloren.» Selbst in der reduzierten Fassung blieb die Struktur des ursprünglichen Werks unverändert.

«Was aber eine Liveperformance ausmacht, ist das Vermitteln von Musik im Moment – ein Stream wird das nie ersetzen.»

Prof. Johannes Schlaefli, Leiter der Dirigierklasse an der ZHdK

Ein Herbst voller Highlights

Das wachsende Angebot an Livestreams zeige, dass Konzerterlebnisse auch auf Distanz gefragt seien. «Was aber eine Liveperformance ausmacht, ist das Vermitteln von Musik im Moment – ein Stream wird das nie ersetzen», ist Schlaefli überzeugt. Die Orchesterkonzerte der «Titanen» im Herbst waren für alle Beteiligten ein Highlight im doppelten Sinne: Auch ohne die lange Durststrecke mit Konzerten ohne Publikum wäre dem Auftritt entgegengefiebert worden. Das Sinfonieorchester wurde von den Studierenden und Dozierenden in Vollbesetzung mit knapp 100 Musiker:innen zusammengestellt – und konnte auch so auftreten. «Wir wären aber auch für eine reduzierte Version bereit gewesen», lächelt Schlaefli, der den Applaus für seine Studierenden in der Tonhalle in vollen Zügen geniessen konnte.

Bild: Musizierende bei Proben
Das Orchesterkonzert der «Titanen» wird geprobt. Foto: Daniela Huser

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