Hypervielfältige Schweiz
Eine changierende Chance?
mit Ganga Jey Aratnam, Sozialmediziner und Soziologe, Universität Basel
Die postmigrantische Gesellschaft
Migration gab es schon immer, denn das Wandern – migrare — ist eine der ältesten Kulturtechniken der Welt. Natürlich wandern nicht nur wir Menschen, aber wir haben Meisterschaften des Unterwegs-Seins entwickelt, die unsere Identität und unser Selbstverständnis seit Jahrtausenden prägen. Erst seit knapp 200 Jahren ist dieses Wandern zu einem knappen und ungleich verteilten Gut geworden: Mit der Erfindung der Nationalstaaten setzt die Regulierung des Rechts auf Wandern ein, und damit beginnt die Tragödie, die wir heute unter dem Namen «Migration» kennen. Oder – in deren regulierten und kriminalisierten Ausprägungen – als «Flucht» und «Asyl», bzw. in den erlaubten und erwünschten Formen als Tourismus oder Expat-Kultur.
Gemeinsam mit Gästen aus den Feldern der Kulturwissenschaften, Postcolonial Studies, Soziologie, Migrationsforschung, Politikwissenschaft und aus den Künsten stellt die Vorlesungsreihe dezidiert die Frage danach, wie eine zeitgemässe Gesellschaft aussehen könnte und müsste, die Migration als ein konstantes und nicht vorübergehendes, bereicherndes und nicht zu verhinderndes, die Kulturen, Identitäten und Geschichten ihrer selbst seit Jahrhunderten prägendes Phänomen betrachtet, das weder Chance noch Risiko, sondern Bedingung für das Weiterkommen ebendieser Gesellschaft ist. Oder andersrum: Sie stellt die Frage danach, wie eine Gesellschaft über sich selbst nachdenken könnte, die schon längst akzeptiert haben müsste, dass sie in der Phase der Postmigration angekommen ist, in der Migration gar nicht mehr als etwas zu Verhinderndes zur Debatte steht, sondern als gestaltende und wirkungsmächtige Kraft unserer Gesellschaft ernst zu nehmen ist.