In Druckprozessen wirken eine unüberschaubare Anzahl an Einflüssen auf den Moment der Bildentstehung,
darunter Menschen, Materialien, Maschinen, Werkzeuge und klimatische Bedingungen.
Erst die Kontrolle dieser Komponenten ermöglicht die gleichförmige Reproduktion, das Ziel des
seriellen Druckens.
Die vorliegende These dokumentiert und analysiert ein anderes Verfahren, den performativen Akt
an der Druckerpresse. Dabei ist der gezielte Verzicht auf die Kontrolle der Farbübertragung ein
wesentliches Mittel der künstlerischen Arbeit. Das Unkontrollierbare dieser Einflüsse nenne ich
Chim.ren. Sie sind die Werkzeuge einer transformativen malerischen und zeichnerischen Arbeit. Die
entstehenden Ergebnisse sind ausschliesslich Unikate.
Die Chimäre ist eine alte und vielgestaltige Chiffre. Die Biologie beschreibt sie als Organismus, der
aus zwei oder mehr Geweben verschiedener genetischer Zusammensetzung besteht. Die antiken
Autor·innen sahen sie als Mischwesen aus Löwe, Ziege und Schlange. Der Sprachgebrauch meint
damit ein Trugbild, das sich jeder Definition und Festlegung entzieht. Der Anthropologe Carlo Severi
sieht sie als Erinnerungstechnik schriftloser Kulturen, als Gedächtnishilfe performativer Prozesse.
Ich folge diesen unterschiedlichen Definitionen und formuliere daraus vier Fragen, die meine Druckprozesse
leiten. Welche Teile kommen zusammen? Was hält sie zusammen? Wie lösen sie sich wieder?
Welche Spuren hinterlassen sie?
Besonders deutlich wird diese Ausgangslage in meinem erweiterten Verständnis von Materialdruck:
Verschiedene Materialien werden auf den eingefärbten Druckstock gelegt, mit Papier abgedeckt
und zwischen die Walzen geführt. Eingefärbt und vom Pressdruck zusammengehalten, werden sie
zu einer Chimäre, und wenn der Pressdruck gelöst wird, verschwindet diese Chimäre wieder. Übrig
bleibt nur ihre Spur auf dem Print.
Den Ort, an dem in der Druckerpresse Träger, Farbe und Druckbild unter dem grösstem Druck in
Kontakt treten, nenne ich Chim.rensattel. Er wird hier zum ersten Mal in der Fachliteratur beschrieben.
Er befindet sich zwischen den Walzen und ist uneinsehbar.
Dieses performative Arbeiten an der Druckerpresse eröffnet einen sozialen, künstlerischen und metaphorischen
Raum. Es ermöglicht einen kritischen Diskurs zwischen den anwesenden Aktanten,
den transformativen Praktiken des Abdruckens und den Erinnerungstechniken des Spurenlesens.
In ihrer Form folgt die Dissertation den Bestiarien: Als Kompendien, die in den antiken und modernen
Traditionen wirkliche und imaginäre Tiere vereinigen, schaffen sie eine Ordnung über die Kategorien
hinweg. Hier sind es Erfahrungen aus der Praxis, Materialkunde und den kritischen Diskursen,
die als Teile des performativen Druckens geordnet und damit der weiteren multidisziplinären Praxis
und Reflexion zur Verfügung gestellt werden.
Die Schriftstellerin Julia Weber dokumentiert in Alles das, was nicht da ist, was das mit uns macht
den performativen Druck mit einem literarischen Text.
Der Leitfaden Auf dem Chim.rensattel beschreibt die Vorbereitung und die Durchführung des performativen
Druckens.
Zehn Arbeitskörper fassen den Output meines induktiven Vorgehens. Ich habe sie nach einem einzigen
Kriterium ausgewählt: Wieviel chimärisches Potential ist darin zu vermuten, das heisst, wie wirken
die unkontrollierbaren, zufälligen, ephemeren, nicht reproduzierbaren Mittel und Methoden auf
die Arbeit? Die strukturierten Prozess- und Werkdokumentationen belegen die Chimärenvermutung.
Die Sammlung von Recherchen zeigt und schafft Verbindungen zu anderen Disziplinen. Ein kommentiertes
Referenzverzeichnis mit Ausstellungen, Werken und einem Register der Peers verortet
die Dissertation im forschenden Umfeld der Künste.
Die Bildrecherechen sind zu Organismen arrangiert. Strukturiert und zusammengehalten werden
sie von zeichnerischen Elementen.
Die Dissertation versteht sich als Forschung in und für die Künste. Sie folgt dem Ansatz von “Sharing”
und “Challenging” zwischen Peers im eigenen Feld. Es ist das Feld des Druckens, spezifisch des
Materialdrucks, zu dem hier ein Beitrag geleistet wird.