Forschungsgrundlage:
Die Dissertation ist Teil eines grösseren Forschungsprojektes, das 2019 vom Museum für Gestaltung und dem Institut für Theorie der ZHdK beim Schweizer Nationalfonds eingereicht und im ersten Durchgang für vier Jahre bewilligt worden ist.
Die Forschungsgrundlage des Projektes bildet neben einzelnen Arbeiten, Prototypen und Archivunterlagen aus dem Unterricht, die sich bereits im Museum und dem Archiv befunden haben, der gesamte Nachlass von Willy Guhl, der in der Zwischenzeit mit einem Ankauf und zwei Teilnachlässen an das Museum für Gestaltung übergegangen ist.
Das Gesamtprojekt besteht aus drei Teilprojekten. Einem Basisteil zur impliziten Entwurfstheorie von Willy Guhl und der systematischen Katalogisierung des Nachlasses, um ihn für die Öffentlichkeit und die Forschung zugänglich zu machen.
Ein weiteres Teilprojekt beschäftigt sich mit dem visuell-materiellen Denken von Willy Guhl und basiert hauptsächlich auf der Grundlage des fotografischen Teils des Nachlasses mit seinen 6000 Fotos und Diapositiven.
Und mein Teilprojekt, das sich mit der Entwurfstheorie von Willy Guhl und seinen Gestaltungsprinzipien beschäftigt und diese anhand seiner Entwurfsskizzen, Entwurfspläne, Fotos, Vorträgen und seiner Unterrichtsmaterialien sowie anhand von Interviews mit Zeitzeugen und ehemaligen Schülerinnen und Schülern untersucht und seinen Entwurfsprozess und sein experimentell forschendes Vorgehen als eine Form der Wissensproduktion bzw. eine eigenständige, genuine «Wissenspraxis» beschreibt. Eventuell ein «Research through design»?
Was bringt seine spezielle experimentell forschende Vorgehensweise an Wissen hervor? Wie können seine Zeichnungen, Modelle, Fotografien, also haptische und visuelle Darstellungen, den Wissensgewinn, die Wissensgeneration und die Weitergabe des Wissens fördern? Welche Bedeutung kommt dabei dem «impliziten» Wissen bei der Wissensbestimmung und bei der Weitergabe seines Wissens zu?
Willy Guhl hat sehr wenig verschriftlicht. Er hat mehr über seine verschiedenen praktischen, experimentellen Studien, die er dokumentarisch festgehalten hat aber auch über eine Art storytelling in Form von Geschichten sowie im «Machen» und «Zeigen» sein Wissen generiert und geteilt. Anhand von Filmvorträgen, Interviews mit Schüler*innen und Unterrichtsmaterialien und auch in Form seiner Aufgabenstellungen im Unterricht versuche ich dieses Wissen ebenfalls zu erfassen. Wie überträgt er sein Wissen in den Unterricht und welche Bedeutung hat die Lehre für seine eigene Arbeit.
Ausserdem liegt ein weiterer Fokus auf dem Entwurf und dem Entwerfen. Was passiert während des Entwerfens und seines Entwurfsprozesses? An den verschiedenen Stufen seines Entwurfsprozesses, dem Verwerfen, Probieren, neu justieren und wieder probieren werden Vorgehensweisen, Intentionen, Methoden, Techniken und kreative Prozesse deutlich. Ausserdem soll auch das Denken als Prozess beim Entwerfen, Entwickeln und Konstruieren thematisiert werden. Auch im Umgang mit Material und Medien sollen wichtige Aufschlüsse über Methoden, kreative Prozesse und planendes Denken deutlich werden. Welche Wechselbeziehung besteht zwischen Erkenntnisprozessen, den verwendeten Werkzeugen, dem körperlichen Erfahrungswissen (impliziten Wissen) und den Artefakten?
Wer war Willy Guhl?
Willy Guhl (1915-2004) gehört zu den wichtigen Designern der Schweiz und gilt als Pionier des modernen, «neofunktionalistischen» Industriedesigns. Viele seiner Entwürfe, wie der Strandstuhl aus Faserzement (1954), der sogenannten Guhl-Stuhl (1959) von Dietiker, die erste, zeitgleich mit Ray und Charles Eames entwickelte Kunststoffschale in Europa (1948-51), Scobalit-Stuhl oder der Armlehnstuhl (1948) oder Entwürfe der ersten «flat-pack» Möbel in den 1940er Jahren fanden Eingang in die nationale und internationale Designgeschichte und gelten bis heute als Designklassiker. Ebenso im Alltag nicht wegzudenken sind seine Blumenkisten aus eternit.
In der Tradition der Moderne und gegen den «völkischen» Heimatstil, entwickelte Willy Guhl nach 1945 einen ganzheitlichen, am Menschen und seinen Bedürfnissen orientierten Gestaltungsansatz; Sparsamkeit und Selbstverständlichkeit kennzeichnen seine Produkte, z.B. die «Exportmöbel» für den Wiederaufbau oder der einfach montierbare Pavatex-Schrank.
Er war immer sehr interessiert an neuen Werkstoffen und Materialen und knüpfte schon früh Kontakte zur Schweizer Industrie oder diese zu ihm. Diese Kontakte bezog er auch immer direkt in den Unterricht mit ein und liess seine Schüler*innen an Wettbewerben und Entwürfen mitarbeiten. Schon um 1948 betreibt Willy Guhl experimentelle Sitzstudien mit denen er dann am MoMA-Wettbewerb «Competition for Low Cost furniture» teilnimmt und entwickelt daraus später mit der Firma Scobalit 1951 den ersten europäischen Kunststoff-Schalenstuhl aus plastischem Material. Die Ausstellung zu diesem Wettbewerb wurde 1950 in «Das Werk» veröffentlicht und daraufhin hat die Firma Scott Bader und das Kurbad Bad Wiessee Kontakt zu Willy Guhl aufgenommen.
In der Zusammenarbeit mit Schweizer Firmen wie Eternit, Dietiker oder Aebi, entwirft Guhl Sitzmöbel, Pflanzgefässe oder Mähmaschinen. Für private Auftraggeber baute er Häuser um, mit seinen Schülern richtet er Ausstellungen und Musterwohnungen ein.
Auch seine fast 40 jährige Lehrtätigkeit an der Kunstgewerbeschule Zürich, heute ZHdK, prägte mehrere Generationen Schweizer Innenarchitekt*innen und Produktgestalter*innen. (zu seinen Schüler*innen zählen u.a. Andreas Christen, Robert Hausmann, Kurt Thut, Ludwig Walser, Klaus Vogt, Verena Huber). Als Begründer und Leiter der Fachklasse für Innenarchitektur und Produktgestaltung (Industrial Design) an der KGSZ, eine der wenigen damaligen Ausbildungsstätten für Produktdesign in der Schweiz ist er für die Rezeption der Schweizer Designgeschichte unverzichtbar.
Als ausgebildeter Schreiner und Innenarchitekt fussten seine Entwürfe auf der Analyse, Weiterentwicklung und Erfindung neuer Möbeltypen und Gebrauchsgegenstände. Dabei ging er von der Beobachtung bestehender Situationen aus und schuf experimentelle Settings, in denen er systematisch in unterschiedlichen Dimensionen und mit unterschiedlichen Konstruktionsweisen, durch Vorstudien, Modellierungen in unterschiedlichen Formaten, durch Versuch und Irrtum, Testung und dem Experiment mit alternativen Materialien vorging bis hin zur Auslotung von Erfordernissen der Entsorgung. Weiter spielte das fortwährende Studium einer möglichen Minimierung und formalen Vereinfachung der Objektentwürfe im Hinblick auf eine Material und Kosten sparende serielle Produktion eine wichtige Rolle.
Seine Designpraxis folgte einer beharrlichen Verbesserung, Umgestaltung und Einbeziehung sowohl ästhetischer als auch ökonomischer und ökologischer Grundsätze.
Man erkennt einen komplexen Prozess der Findung im Herstellen, worin Auge und Hand, das heisst Visualität und Haptik sowie die reflektierte visuelle und haptische Erfahrung mit Materialeigenschaften, Werkzeugen, traditionellen Handwerkstechniken sowie schliesslich auch die Perspektive der Nutzung (die Verbesserung der Beziehung zwischen Gerät und Nutzer) eine gleichwertige Rolle spielten.
Er folgte einer experimentellen aber auch experimentell-forschenden Entwurfspraxis. Guhl hat daraus insbesondere ganzheitliche Grundsätze für die Gestaltung abgeleitet, die er auch in der Lehre anwendete und weiterentwickelte.
Seine Designpraxis folgt einem problemlösungsorientierten Handeln entlang der eigenen, nach Einfachheit, Verhältnismässigkeit und Sparsamkeit strebenden Lebensphilosophie. Gestaltungsmaxime wie die eines «menschlich angemessenen» Designs, einer Einheit von Material, Form und Konstruktion, oder einer grösstmöglichen formalen Vereinfachung der Objektentwürfe sowie eine Material und Kostenbewusste serielle Produktion bestimmen sein Schaffen sowie seine Lehre. Und ergänzt mit ökologischen Aspekten.
Diese Designpraxis entspricht im Ansatz einer, wie schon zu Beginn erwähnten, Forschung als «Research through Design», als eine gleichsam ästhetisch-normativ gesteuerte Forschung durch bzw. mit oder im Medium von Design und ist daher nur konsequent und verbindet den experimentellen Zugang von Guhls Entwurfspraxis mit den oben genannten «Prinzipien», seinem «Designethos» bzw. seiner «Design- und Lebensphilosophie».
Sie verbindet sich ebenfalls mit seiner spezifischen Lehrweise, die er gleichzeitig immer auch als eine Partizipation an einem kollektiven wie gleichermassen auch «designethisch» fundierten Prozess gestaltete, deren Haltung er entlang von «Objektgeschichten» narratologisch einübte. Seine Arbeiten ausserhalb der Schule sah er als Experimente für die eigene Erfahrung an. Er nahm diese Erfahrung mit in den Unterricht und versuchte daraus gültige Theorien abzuleiten.