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    Eingelegte Eier, explosive Bakterien

      Bakterien, Pilze und Enzyme – Fermentation gehört zu den ältesten Techniken, um Lebensmittel haltbar zu machen oder in ihrem Geschmack zu verändern. Wie Künstler:innen diese Technik als Medium für soziale Interaktion nutzen, wird am Abendanlass «Fermentation Stories» erlebbar.

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      Text: Milena Giordano
      Bilder: Taiga Nakazaki

      Vor eineinhalb Stunden kannte ich die gut zwei Dutzend Menschen noch nicht. Jetzt greifen wir gemeinsam mit blossen Händen in grosse Schalen mit kleingeschnittenem Gemüse, stopfen dieses in Gläser und tauschen fleissig unsere eigenen Mikroben aus. Es ist ein Mittwochabend kurz vor Weihnachten und wir sitzen in dem grossen Raum eines ehemaligen Industriegebäudes, das nun die Reparaturwerkstatt ReCreaZZ beherbergt. Neben uns nähen junge Frauen Kleidung um, ein Junge bastelt an einem Solarbot, weiter hinten hantiert ein Mann an einer Holzfräse. Das Kollektiv BadLab (Informationen siehen unten) rund um Maya Minder, Corinna Mattner und Anne-Laure Franchette führt uns durch den Abendanlass «Fermentation Stories».

      Die sechs grossen Holztische im Raum sind übersäht mit Karottenschnitzen und Blumenkohlröschen, die letzten freien Flächen belegt mit Schneidebrettern, Rüstmessern und leeren Einmachgläsern. Dazwischen stehen Trinkflaschen mit grünen, gelben und violetten Flüssigkeiten sowie Gewürzgläser mit gemahlener Kurkumawurzel, Pfefferkörnern und getrocknetem Zitronengras. Die Menschen – Student:innen, Frauen und Männer im frühen und mittleren Alter – arbeiten in Kleingruppen an den Holztischen, blättern mit nassen Fingern eifrig in ihren Rezeptbüchlein. Eine Frau mit kurzem Pony steckt ihrer Sitznachbarin ein Karottenstück in den Mund, beide lachen.

      Jede Tischgruppe setzt ein anderes Rezept um. Meine Tischgruppe stellt gerade Salzlake her, um darin Mixed Pickles einzulegen. Während ich noch etwas Zitronengras in mein Gemüseglas gebe, machen die anderen Sauerkraut, Auberginen Sottolio und Kimchi. Die vermeintlich neue Technik, die teilweise immer noch ratloses Staunen auslöst, ist tatsächlich eine der ältesten Methode, um Essen haltbar zu machen: Wir fermentieren.

      Von Mikrobiom und Food Waste
      Maya Minder, eine hochgewachsene Frau in einem bunten, seidenartigen Zweiteiler, erzählt von ihrer Kindheit mit ihrer koreanischen Mutter, die ihr schon früh beigebracht hat, fermentierte Speisen zu essen und zu lieben, allen voran Kimchi. Sie ist Fermentista, Künstlerin und Köchin und nutzt die Fermentation als Medium, um soziale Interaktionen und die Entstehung von Gemeinschaft zu fördern. Im Verlauf des Abends werden wir mit der Frage nach der Herkunft unserer Lebensmittel konfrontiert und beschäftigen uns mit unserer Beziehung zu ihnen. Wir überlegen, welchen Wert wir unserem Essen beimessen, streifen Themen wie Food Waste und Wiederverwendung – und hinterfragen unsere eigene Wertschätzung gegenüber unserer täglichen Nahrung.

      Auf der Reise durch Kulturen, durch Zeit und Geschichte erzählt Maya uns von den gesundheitlichen Vorteilen fermentierter Lebensmittel. Diese seien für unsere Verdauung teils bekömmlicher als im Rohzustand und dienten als wahre Geschmacksverstärker. «Die Milchsäurebakterien sind sehr lebendig, sie versorgen uns mit zahlreichen Vitaminen und stärken unser Mikrobiom und das Immunsystem», betont Maya

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      «Hoshigaki» hätscheln
      Am Kopfende des Raumes ist eine Pyramide leuchtend-oranger Kakis auf einem weiteren grossen Holztisch aufgebaut. Maya erzählt, wie in Japan im Herbst tausende Kakis an Schnüre gehängt werden, um an der Luft zu trocknen. Dabei werden die Früchte zum Trocknen nicht einfach sich selbst überlassen, sondern täglich mit grosser Sorgfalt massiert. So werden die Tannine – also Gerbstoffe – gelöst und der Zuckergehalt in der ganzen Frucht wird richtig verteilt. Maya reicht uns Früchte, die sie gemeinsam mit Anne-Laure und Corinna bereits vor zwei Wochen aufgehängt hat. Die Oberfläche fühlt sich ledrig an, stabil und dennoch weich, auf Druck lässt sich das weiche Innere ertasten. Die Früchte haben bereits die richtige Konsistenz, doch perfekt sind sie erst, wenn sich eine weissliche Schicht über die Aussenhaut zieht – nicht etwa Schimmel, sondern karamellisierter Zucker. Die getrockneten Früchte nennen sich «Hoshigaki» und werden im Land der aufgehenden Sonne als Delikatesse zum Tee gereicht.

      Wir dürfen uns nun eine dieser «Götterfrüchte» nehmen und zurück an unseren Platz sitzen. Es ist ein wenig wie bei einer Zaubershow: Anspannung und Erwartung liegen in der Luft. Wie verwandeln wir unsere Frucht nun in ein «Hoshigaki»? Maya leitet uns an: Wir schälen die Frucht und knüpfen eine Schnur um die oberen Blätter und den Stiel. «Es ist wichtig, dass wir eine Beziehung zu unserem Essen aufbauen, dass wir einen vorsichtigen Umgang mit unserer Nahrung pflegen und ihr unsere Wertschätzung entgegenbringen», erklärt sie. Und beweist sogleich, dass sie nicht nur Wasser predigt: Sie ist entzückt darüber, wie hübsch die überall herumliegenden Streifen der Kakischalen doch aussehen, wenn sie sich wie Locken kringeln und organisiert kurzerhand einen Eimer, in dem wir die Schalen sammeln und für eine spätere Verwendung aufbewahren. In was sie sie später wohl verwandelt?

      Die Kaki mutiert in meinen Augen zu einem kleinen, bedürftigen Wesen: Wir müssen sie nun vorsichtig nach Hause tragen, an einem trockenen, warmen Ort aufhängen und in den kommenden zwei Wochen immer wieder hingebungsvoll massieren, am besten täglich. Ich stelle mir vor, wie ich nun täglich mein «Hoshigaki» hätschele und höre Maya sagen: «Unser eigenes Essen herzustellen, gerade beim Fermentieren, das hat auch viel mit Pflege und Care-Arbeit zu tun, ja es hat Parallelen dazu.»

      Zähe Schale, prickelndes Inneres
      Wir schnippeln, würzen, schmecken ab und füllen unsere Einmachgläser. Wir reden über Geschmacksknospen und Kindheitserinnerungen, wie die Grossmutter Sauerkraut hergestellt hat oder wann wir das erste Mal Kombucha getrunken haben. Immer wieder kommen Maya oder Anne-Laure an unsere Tische und decken uns neue Köstlichkeiten auf. Ich öffne ein Glas mit in Sojasauce und Mirin – japanischem Reiswein – eingelegten Knoblauchzehen. Sie schmecken erfrischend säuerlich, leicht süsslich, mit einer feinen Nuance von Karamell und haben die unverschämte Schärfe des rohen Knoblauchs verloren. Als nächstes wird eine Tomaten-Mango-Chillisauce herumgereicht. Diese ist richtig feurig und schmeckt leicht zitronig. Am Nebentisch gibt es eingelegten Rosenkohl und Cherry Tomaten. Die Leute stehen auf, wandern um die Tische, um all die aufgetischte Feinkost zu probieren. Ich beisse auf eine fermentierte Tomate und erlebe wahrlich eine kleine Geschmacksexplosion: Die Schale ist etwas zäh, dafür explodiert das Innere prickelnd in meinem Mund. Neben mir öffnet eine Frau eine mit gelber Flüssigkeit gefüllte Flasche – plop – und schon ergiesst sich ein sprudelndes Irgendwas über ihre Hände, den Tisch und den Boden. «Da seht ihr die Kraft der Bakterien, sie leben – es hat auch schon mal eine ganze Flasche «verjagt», meint Maya und lacht. Die gelbe Flüssigkeit ist Kombucha mit Kurkuma.

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      Zwischen WG-Party und Chemieunterricht
      Nachdem die meisten Teilnehmer:innen ihre Gläser abgefüllt haben, lösen sich die Kleingruppen auf. Am grossen Tisch am Kopfende des Raumes gibt es Bier aus dem Kühlschrank und fermentierten Wein zu probieren. Anne-Laure, Maya und Corinna mischen sich unter die Leute, beantworten Fragen und geben Tipps, während alle fleissig weiterkochen. Es ist wie in einer Hexenküche: Drei Frauen legen hartgekochte Eier in dunkelrote und gelbe Flüssigkeit ein, eine indische Austauschstudentin steht am Gasherd, vor sich eine Schüssel mit Bierteig, und frittiert darin frische Zucchiniblüten. Gefühlt befinde ich mich zwischen WG-Party und Chemieunterricht. Ich zapfe mir ein Glas aus einer grossen Gallone mit pinker Flüssigkeit und nehme einen Schluck.

      Der Appetit ist reichlich angeregt durch das ständige Probieren und der Herd verströmt einen Geruch von frisch angebratenen Zwiebeln. Maya, Anne-Laure und Corinna servieren zum Abschluss dampfende Teller mit Vollkornspaghetti, Barba di Frate (Mönchsbart), im Bierteig frittierten Zucchiniblüten und einem rassigen Kimchi als Topping. «Lebensmittel gemeinsam zubereiten, gemeinsam wahrnehmen und schmecken, das gibt eine soziale Verbindung, das ist identitätsstiftend», erzählt Maya. Dieses Wissen um Zubereitungsmethoden und die Erfahrungen rund um Nahrung zu teilen, nennt sie «Soziale Fermentation». Kann dieses kollektive Fermentieren auch Auswirkungen auf die Gesellschaft haben? «Ja», meint Maya: «Wir lenken hier die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von traditionellen Techniken und lokalen Ressourcen und fördern die Wertschätzung für handgefertigte Lebensmittel».

      Die offizielle Veranstaltungszeit ist schon lange verstrichen, aber es scheint sich niemand daran zu stören. Ausgelassen schwatzen die Menschen weiter, schöpfen sich noch einmal Nachschub, füllen ihre Weingläser auf. Sie bedanken sich gegenseitig für den bereichernden Abend, füllen ihre Rucksäcke mit den selbst befüllten Gläsern und tragen ihr «Hoshigaki» vorsichtig an einem Stück Schnur durch die dunkle Nacht. Auch ich mache mich auf den Weg nach Hause und fahre mit einem Bauch voller glücklicher Mikroorganismen im Tram durch das vorweihnachtliche Zürich. In der Küche hänge ich meine Kaki auf und stelle die Einmachgläser auf die Küchenablage. Ich bin gespannt auf den nun einsetzenden Fermentationsprozess und erstelle einen Kalendereintrag für den nächsten Tag: «Hoshigaki» massieren.

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      Maya Minder, Corinna Mattner und Anne-Laure Franchette stellen uns die Rezepte vom Abendanlass «Fermentation Stories» als open source Dokument zur Verfügung. Nachfolgenden können Sie das Rezeptbuch als PDF herunterladen – zum Nachkochen, Ausprobieren und Teilen. Wagen Sie ein kleines Experiment? Laden Sie eine Gruppe Menschen, die sich nicht kennen, zu sich nach Hause ein und versuchen Sie den Prozess der Sozialen Fermentation.

      • Rezeptbuch Fermentation Stories
      • Badlab

        Das BadLab ist ein kollektives Labor für interdisziplinäre Ideen und Praktiken rund um biologisches Erfahrungswissen, Biodiversität, Nachhaltigkeit und Resilienz. Die Aktivitäten von BadLab n bestehen aus künstlerischen Installationen, Performances und Food-Events rund um die Themen soziale Transformation, Pflegepraktiken und DIY-Strategien.

      • (Soziale) Fermentation

        Fermentation ist ein biologischer Prozess, bei dem Mikroorganismen wie Hefen und Bakterien natürliche Zucker und Stärke in Lebensmitteln in Alkohol, Milchsäure, Kohlensäure oder andere Substanzen umwandeln. Dieser Prozess wird verwendet, um Lebensmittel haltbar zu machen und ihnen Geschmack, Textur und Nährwert zu verleihen. Beispiele für fermentierte Lebensmittel sind Brot, Käse, Bier, Wurst, saure Gurken, Kimchi, saures Sauerkraut und Joghurt. Fermentation kann auch verwendet werden, um Medikamente und Enzyme herzustellen und in der Biotechnologie zur Produktion von Proteinen und anderen biologischen Verbindungen.

        Soziale Fermentation bezieht sich auf den Prozess, bei dem Mikroorganismen (wie Hefen und Bakterien) dazu verwendet werden, um soziale Interaktionen und die Entstehung von Gemeinschaft zu fördern. Dies kann durch Aktivitäten wie gemeinsames Fermentieren von Lebensmitteln, Austausch von Kenntnissen und Erfahrungen sowie die Schaffung von Räumlichkeiten und Gelegenheiten für Begegnungen und Interaktionen erreicht werden. Soziale Fermentation kann auch dazu beitragen, die Wertschätzung für handgefertigte Lebensmittel und traditionelle Techniken zu fördern sowie die Fähigkeit, gemeinsam Probleme zu lösen und Ressourcen zu teilen.