Valentin, wie würdest du deine künstlerische Praxis beschreiben?
Ich arbeite hauptsächlich mit Öl auf Leinwand. Der Schwerpunkt meiner Arbeiten liegt auf Transkulturalität und interkulturellen Themen zwischen zwei Orten. Während meines Studiums an der ZHdK habe ich mich von der chinesischen Kunstgeschichte inspirieren lassen. Ich bin halb Chinese und hatte in der Schule nie wirklich Zugang zur chinesischen Geschichte. Ich wollte sehen, wie ich sie mit dem verbinden kann, was ich bereits kenne, nämlich die westliche Kunstsprache. Hier kommt der interkulturelle Aspekt ins Spiel. Auf diese Weise habe ich gelernt, in welchem Bereich sich beide Geschichten überschneiden können.
Wie hat dein Auslandsaufenthalt deine künstlerische Praxis verändert?
In Europa hat alles in der Kunst eine Bedeutung, und fast jedes Objekt ist ein Symbol. In diesem Sinne habe ich vor meiner Abreise nach China in meinen Gemälden viele figurative Menschen verwendet, um eine Geschichte zu erzählen. Meine Figuren waren von kleinen chinesischen Bilderbüchern aus dem 20. Jahrhundert inspiriert, einer Zeit, die von der Kulturrevolution geprägt war. Infolgedessen hatten meine Gemälde einen starken Bezug zu Figuren des sozialistischen Realismus, einer Ästhetik, die ursprünglich für Propaganda- und Bildungszwecke übernommen wurde. Das interessierte mich, weil es wieder eine völlig andere Kunstgeschichte war, mit der ich mich noch nie beschäftigt hatte. Es ist auch ein Teil der Geschichte, den meine Familie miterlebt hat, daher war es für mich sehr persönlich. Was ich in meinen Werken betrachte, ist das, was auch meine Familie gesehen hat. Aber für sie war es Realität und nicht nur ein Gemälde. Mit diesen Projekten habe ich mich beworben, als ich nach China ging. In Chongqing hat sich alles verändert, und ich habe neue Interessen entdeckt, die ich nicht erwartet hatte. Ich begann mich mehr für Natur und Architektur zu interessieren, für Dinge, die den Test der Zeit bestehen. Diese Dinge haben die Geschichte viel länger miterlebt als ein Mensch oder ein Buch. In den ländlichen Gebieten Chinas, nicht weit von meinem Wohnort entfernt, gibt es so viele verlassene Gebäude mit einer apokalyptischen Atmosphäre, wo man beobachten kann, wie die Natur sich das zurückholt, was ihr ursprünglich gehörte. Dort habe ich hauptsächlich meine Inspiration gefunden.
Mit welchen Zielen bist du in die Residency gegangen und was hast du gewonnen?
Ich wollte zunächst meine Kultur und ihre Kunstszene erkunden und meine Kunst einem anderen Publikum vorstellen. Da ich in meinen Arbeiten chinesische historische Elemente wiederverwende, muss ich darauf achten, dass ich dies auf respektvolle Weise tue. Nach China zu gehen war also ein bisschen so, als würde man nackt vor ihnen stehen und sagen: «Sagt mir, was ihr von meiner Arbeit haltet.» Die Reaktionen waren sehr positiv, auch weil ich meinen Fokus in meiner Arbeit erweitert habe. Im Allgemeinen waren die Menschen sehr unterstützend. Am Ende der Residency habe ich gelernt, wie ich meine doppelte kulturelle Perspektive mit dem chinesischen Publikum teilen kann, damit es sich damit identifizieren kann. Als ich danach in die Schweiz zurückkehrte, begann ich mich jedoch auch dafür zu interessieren, mit einem Publikum in Kontakt zu treten, das noch nie in China gewesen war.
Wie hat dein Auslandsaufenthalt in China deine Sicht auf die Schweiz und das Schweizer Kunstsystem beeinflusst?
In der Schweiz gibt es ganz andere Probleme, beispielsweise in Bezug auf Inklusion hinsichtlich Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität. In China beginnen die Hindernisse schon viel früher, zum Beispiel durch kulturelle Zensur. Dieses Problem muss erst gelöst werden, bevor man über die Themen sprechen kann, mit denen sich die Kunstszene in der Schweiz beschäftigt. Meines Wissens nach floriert die Underground-Kunstszene in China, weil Gemeinschaft und Vertrauen gegenüber Individualismus überwiegen. In der Schweiz werden Offspaces von der Stadt oder dem Kanton unterstützt, und es gibt viel mehr Möglichkeiten für Kunstschaffende. Die Offspaces, die ich in Chongqing besucht habe, sind völlig unabhängige und selbstverwaltete Organisationen, die vor allem darauf abzielen, einen sicheren Raum für Kreative zu schaffen. Das sorgt für eine super spannende Kunstszene, weil die Künstler:innen die Kunst wegen ihres gemeinschaftlichen Wertes lieben und bereit sind, sich gegenseitig auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen und für einander zu sorgen. Nach meiner Rückkehr wurde mir klar, wie glücklich ich mich schätzen kann, Schweizer zu sein, und ich weiss die Unterstützung, die man als Künstler hier erhält, wirklich zu schätzen. Der Nachteil der Kunstszene in der Schweiz ist, ohne Ironie, die Selbstzensur. Wie bereits erwähnt, muss jedes Werk, das man schafft, eine Bedeutung und einen Zweck haben. Man beginnt, mit bestimmten Symbolen vorsichtiger umzugehen, weil sie etwas bedeuten könnten. In Chongqing waren alle in ihrer Praxis authentischer. Das führte zu einigen sehr verstörenden, aber auch sehr unterhaltsamen Werken. Letztendlich hat es meine Art, Kunst zu machen, bestätigt.
Wie hast du deinen Auslandsaufenthalt mit dem Förderprogramm What’s Next_Compass kombiniert?
Der Z-Kubator bot mir die Möglichkeit, Einzelcoachings mit Expert:innen zu erhalten, die mir bei meiner Arbeit helfen könnten. Ich habe zum Beispiel mit einem Anwalt und einem Buchhalter gesprochen. Sie haben mir geholfen, sicher in die Berufswelt einzusteigen, insbesondere in wichtigen rechtlichen und finanziellen Fragen. Ausserdem hatte ich die Freiheit, während meiner Teilnahme am Programm nach China zu reisen. Ich konnte sogar meine Zeit im Atelier verlängern, um mich auf meine bevorstehende Ausstellung vorzubereiten, was eine enorme Unterstützung ist.
Konntest du in die lokale Kunstszene eintauchen und wie hast du dich vernetzt?
Ich spreche ein bisschen Mandarin, was sich als sehr nützlich erwiesen hat, sonst wäre das Networking viel schwieriger gewesen. Die Menschen in Chongqing waren auch viel mehr an der Kunst interessiert als am Geld, sodass es sich in gewisser Weise wie eine Familie anfühlte. Sie waren äusserst grosszügig und hilfsbereit. Ich glaube, sie waren einfach froh, mir eine Chance zu geben, und haben sich wirklich für meine Arbeit interessiert.
Wie geht es weiter?
Am 31. Oktober 2024 wird meine Einzelausstellung in der Galerie Peter Kilchmann (Rämistrasse 33) in Zürich eröffnet. Ich werde dort die meisten Werke präsentieren, die ich während meines Aufenthalts geschaffen habe. Danach werde ich wieder für drei Monate in ein Residenzprogramm gehen, diesmal nach Shanghai. Was danach kommt, weiss ich noch nicht!
Das Interview führte Maxine Erni.