Als Kreativitätsforscher erkunde ich fliessendes, changierendes Terrain und sehe in disruptiven, grenzüberschreitenden Brüchen ein wichtiges Element der Erneuerung. In unseren CAS-Angeboten gilt Querdenken als Synonym für Kreativität. Auf den kürzesten Nenner gebracht, bedeutet Querdenken die Fähigkeit, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszuschauen. Dabei werden wir regelmässig damit konfrontiert, dass diesem Begriff etwas Schillerndes anhaftet. Eine negative Konnotation bekommt Querdenken, wenn darunter eine Störung des normalen Betriebs oder gar ein Sabotageakt verstanden wird. Die Bezeichnungen «Quertreiber» und «Querschläger» liegen da nicht fern. Seit Corona hat der Begriff durch die selbst ernannten «Querdenker» weiter an Anrüchigkeit gewonnen. Querdenker:innen können quer denken, aber manchmal ist es einfach nur verquer. Es handelt sich dann, so der Philosoph Dieter Thomä, um «gestörte Störer».
Positiv wird der Begriff bewertet, weil Neues im Denken oft gerade dann entsteht, wenn man sich von Routinen befreit und im Zweifel quer zu den herrschenden Grundüberzeugungen zu denken beginnt. Obschon Querdenker:innen leicht nerven können, ist Querdenken nötig, um einen Gegenstand aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Insofern liegen Licht und Schatten, Ablehnung und Bewunderung nahe beieinander. Wenn wir die Etymologie anschauen, haben die Begriffe quer und queer dieselbe Wurzel. Queer stammt etymologisch vom deutschen Wort quer («kwer») ab. Es ist seit dem 16. Jahrhundert ins Englische entlehnt. Im US-Amerikanischen bedeutet es so viel wie «seltsam», «verrückt», «fragwürdig», «falsch». In der Homosexuellenrechte-Bewegung wurde der Ausruf «We are here, we are queer, get used to it!» in den 1990er-Jahren zu einer Kampfansage an Homophobie und Gewalt gegen LGBT. Damit verlor die einstige negative Fremdzuschreibung «queer» ihr herabwürdigendes Potenzial.
Wahlverwandtschaften zwischen quer zu denken und queer zu sein bedeuten, dass Störmomente in Kunst, Alltagswelt und Wissenschaft einfliessen. Sie geschehen ereignis- und prozesshaft. Wer quer/queer agiert und fühlt, befindet sich im Modus eines wachen Querfeldeins, kann Perspektiven wechseln, Regeln brechen, muss wohl auch Krisen und Unsicherheit in sich austarieren. Querdenken und Queerness durchkreuzen eine binäre Entweder-oder-Logik (Widerspruch) und machen sich stattdessen stark für nonbinäre Logiken: Sowohl-als-auch (Ambiguität), Weder-noch (Paradoxie) und das Dazwischen, die Lücken, die Diversität.
Wie könnte ein gezieltes Angebot an Hochschulen aussehen? Eine quer- und queerbewusste Bildung anzubieten bedeutet, die Störung als hereinbrechendes Ereignis anzunehmen. In gewisser Weise lässt sich die «Creative City» ZHdK als Ort des institutionalisierten Querdenkens begreifen, der, paradox formuliert, nach einer Störung der hier praktizierten Störungen verlangt. Und noch dies: Man muss quer durch einen Fluss schwimmen, wenn man mehr über seine Strömungsstärke erfahren will. Und wer sich gar für dessen Quelle interessiert, kommt nicht umhin, sich gegen den Strom zu bewegen.