«Mich interessiert, inwiefern Menschen durch virtuelle Erfahrungen ihre Einstellung zu Spinnen ändern», sagt Barbara Schuler und überreicht mir eine VR-Brille. Kaum habe ich die Brille aufgesetzt, geht der Film los. Die Umgebung präsentiert sich dunkel und unheimlich, da die Spinne ja nachtaktiv ist. Ich finde mich inmitten eines Dschungels wieder, bin von riesigen Bäumen und Sträuchern umgeben. Der 360-Grad-Film soll es mir ermöglichen, in die Welt der Spinne einzutauchen und diese mit ihren Sinnen zu erleben. Interesse für dieses Tier zu wecken. Die VR-Brille vor den Augen schwenkt mein Blick derweil zu einem Bromeliengewächs. Eine haarige Kreatur kommt in Sicht – die Grosse Wanderspinne Zentralamerikas. Näher trete ich an sie heran, bis ich ihr Auge in Auge gegenüberstehe. Mein eigener Körper scheint geschrumpft, die acht Augen der Spinne fixieren mich. Es scheint, als wolle sie mich jeden Augenblick verschlingen. Doch stattdessen kommt es zu einer Transformation – schlagartig wechselt die Perspektive, ich verschmelze mit der Spinne. Schaue ich an mir runter, sehe ich nun zwei stachelige, behaarte Beine, die zu meinem eigenen Körper zu gehören scheinen.
Welchen Nutzen haben die vielen Haare? Wie erkennt die Spinne ihre Beute und wie erlegt sie diese? Wie schützt sie sich selbst vor Feinden? Die Masterarbeit von Barbara Schuler geht solchen Fragen nach. Die VR-Erfahrung einerseits und erklärende, faktenbasierte Illustrationen andererseits beantworten diese einem breiten Publikum im Ausstellungskontext. Für Schuler ist dabei interessant, wie sich wissenschaftliche Fakten und Erkenntnisse sowie ein ganzheitliches, sinnliches Erleben mittels immersiver Technologien vermitteln lassen. Und wie man es schafft, durch Wissensvermittlung Interesse, Respekt und im besten Fall Empathie für eine solch einzigartige Spezies zu wecken.
Die Perspektive wechseln
«Die grosse Herausforderung war, das sinnliche Erleben der Spinne für den Menschen zu übersetzen und erlebbar zu machen», so Schuler. Um ihr Projekt weiterzuentwickeln und ein Forschungsaufbauprojekt zu starten, tat sich Schuler von der Fachrichtung Knowledge Visualization mit Hanh-Dung Nguyen von der Fachrichtung Game Design zusammen. Sie erhielten die Junior-Research-in-Design-Auszeichnung und wollen nun Luftströme und zukünftig auch Vibrationen für die Betrachtenden fühlbar machen. Zusammen testen sie einige neue Features, unter anderem, wie die Rezipienten die Spinne steuern könnten.
«Die Reaktionen auf den Film im Rahmen eines Workshops am Sustainability Science Forum waren sehr unterschiedlich. Alle machen eigene Erfahrungen mit der Spinne», sagt Schuler. Einsam sei das Spinnenleben, so eine Betrachterin, sie fühle sich allein in der Dunkelheit. Unsichtbar kam sich ein anderer in der Rolle der Spinne vor. Manche Teilnehmenden verloren ein wenig die Angst vor dem fremdartigen Geschöpf und einer empfand ihren Körper gar als wunderschön symmetrisch. Aus diesem Grund ist es der Designerin auch ein Anliegen, die psychologische Dimension des Films wissenschaftlich zu untersuchen und weiterführende Forschungen zu initiieren: Haben wir nach dem Film mehr Empathie für Spinnen? Kann mit Virtual Reality gar Empathie geschult werden? Auf die Frage, ob sie selbst keine Angst vor Spinnen habe, winkt Barbara Schuler ab. Als Kind habe sie ständig Spinnen vor dem Staubsauger der Mutter gerettet. «Mir geht es darum, zu vermitteln, dass Spinnen faszinierende Lebewesen sind. Sie sehen zwar fremdartig aus, bewegen sich unvorhersehbar und haben kein Gesicht, von dem man eine Mimik ablesen könnte. Die allermeisten Arten sind aber für den Menschen nicht gefährlich und übertragen auch keine Krankheiten. Im Gegenteil: Sie sind wichtig für unsere Biodiversität und haben wie jedes Lebewesen ihre Daseinsberechtigung.»
Mit Wissensvermittlung Interesse, Respekt und Empathie wecken
Ich sehe mir derweil die Beine genauer an. Neben den vielen feinen Haaren ragen ein paar dicke schwarze Stacheln aus der Haut. Wie aus dem Nichts kommt ein schöner weisser Falter angeflogen, ich glaube, einen Schmetterling zu erkennen. Er kommt näher und mit ihm viele kleine weisse Partikel, die in der Luft herumwirbeln. Sie fliegen der Spinne – also mir – entgegen. Diese Partikel verbildlichen Luftströmungen, die durch die Bewegungen des Falters ausgelöst werden. Ich hoffe inständig, dass die Spinne den Falter nicht verschlingen möge. Der Lauf der Natur. Doch bevor es dazu kommt, ist der Film zu Ende. Zurück in der Realität, fühle ich mich erleichtert, aber auch bereichert durch diese ungewöhnliche Perspektive, die ich einnehmen konnte.