Lassen Sie mich erst folgende einfache Frage stellen: Was genau ist ein Instrument? Ist es ein Mechanismus? Ein Werkzeug? Ein Gerät? Teil einer Ausrüstung? Ein Apparat? Ein Spielzeug? Ein Wunderding? Eine Art arbeitssparende Technologie?
Der Oxford Dictionary (Anmerkung 1) definiert das Wort Instrument als:
1. Ein speziell für Präzisionsarbeit geeignetes Werkzeug oder eine Vorrichtung.
1.1 Ein Mittel, um ein Ziel zu verfolgen.
1.2 Eine Person, die ausgebeutet oder missbraucht wird.
2. Ein Instrument, um Leistungsfähigkeit, Position, Geschwindigkeit usw. zu messen, speziell im Zusammenhang mit Automotoren oder Flugzeugtriebwerken.
3. Ein Objekt oder Gegenstand, um Musik zu machen (Musikinstrument).
4. Ein Formular oder ein juristisches Dokument.
Aus der Perspektive der Musikaufführung ist es interessant zu sehen, dass Musikinstrument nicht die erste Definition ist. Hinzu kommt, dass einem all die möglichen Definitionen bruchstückhaft vorkommen, sie alle sind in einem gewissen Sinn zirkulär und verweisen ihrerseits wieder auf andere Synonyme. Was wir aber definitiv lernen, ist, dass Instrumente eine Art Werkzeug sind, ein Mittel, ein Gerät, ein Gegenstand, eine Quelle rechtlicher Macht und auch ein Messgerät ist, ein Gerät, das zur Wahrnehmung verwendet wird; und so kann ein Instrument sowohl ein Werkzeug zur Kontrolle als auch zur Wahrnehmung sein. Die Historikerin und Ökophilosophin Melanie Challenger schreibt in ihrem Buch «How to Be Animal: A New History of What It Means to Be Human» (2021): «Das Leben auf unserem Planeten kann grob in autotrophe und heterotrophe Formen aufgeteilt werden. In Organismen, die Sonnenenergie oder chemische Reaktionen nutzen, und solche, die sich bei Organismen bedienen, die diesen Prozess bereits (quasi für sie) durchlaufen haben. Ungewöhnlich an unserer Spezies ist, dass wir immer mehr Energie verbrauchen, ohne uns grundlegend zu verändern. Geschafft haben wir dies über eine Kombination von sozialem Lernen mit einer komplexen Kultur und ausgefeilten Technologien. Wir müssen uns nicht im Sinne eines Allosaurus spezialisieren, um überlebenswichtige Krallen zu entwickeln, wir tauschen Wissen aus, um beispielsweise Dinge wie Sprengköpfe oder Kraftwerke zu bauen. Anders formuliert: Wir passen unsere Werkzeuge statt unserer selbst den Gegebenheiten an».
Werkzeuge als Fortsätze unserer selbst
Soziales Lernen und unser kulturelles Erbe helfen uns also, die notwendigen Werkzeuge, Mittel zum Zweck oder Objekte zu entwickeln, um neue Möglichkeiten zu erforschen. Diese Werkzeuge werden zu einer Art Fortsätzen unserer selbst. In den Worten Marshall McLuhans: «Im mechanischen Zeitalter haben wir unseren Körper im Raum ausgeweitet. Heute, nach mehr als einem Jahrhundert elektronischer Technologie, haben wir unser zentrales Nervensystem zum weltumspannenden Netzwerk ausgeweitet (…)», aus McLuhan, «Understanding Media: the Extensions of Man» (1964). Wir Künstler:innen kennen das gut, da wir mithilfe von Werkzeugen Formen denken, imaginieren und schaffen müssen. Wir nennen live auftretende Musiker Instrumentalisten und verstehen sie als Menschen, die einen grossen Teil ihres Lebens damit verbringen, ihr Instrument in all seinen Nuancen zu beherrschen. Jede Kunstform hat ihre eigenen Instrumente: Pinsel, Messer, Klebstoff … Was folgerichtig heisst, dass wir eigentlich Künstler:innen als Instrumentalist:innen bezeichnen können.
Für Tänzer und Sängerinnen etwa ist der eigene Körper das Instrument, dessen sie sich bedienen. Für die Schöpfung relationaler und partizipativer Werke bedienen wir uns der Instrumente Sprache und Architektur, um den für sie notwendigen konzeptuellen Rahmen und sozialen Kontext zu schaffen. Jedes Instrument kann zu einem Lebensbestandteil werden – wir neigen dazu, uns Instrumente auf fast schon intime Art zu eigen zu machen. Sie stehen symbolisch für verschiedene Arten, sich auszudrücken, und beeinflussen, wie wir uns mitteilen. Und sie helfen uns wie die Sprache, unsere Aktionen den gegebenen sozialen Kontexten anzupassen. Selbst unser Körper verändert sich in diesem intimen Umgang mit unseren Werkzeugen: Streicher:innen entwickeln über den Druck der Saiten beispielsweise Hornhaut an den Fingerspitzen. Violinist:innen haben häufig ein rotes Mal am Kinn usw.
Die Künstler:innen und ihre Instrumente
Als ich mal den Arm gebrochen hatte, bestand ich darauf, dass man diesen in einem leichten Winkel schiente, damit ich während des Heilungsprozesses weiter Gitarre üben konnte. Glücklicherweise ging das in meinem Fall gut aus. Es kann aber vorkommen, dass eine unsaubere Spieltechnik langfristig zu bleibenden körperlichen Schäden führt. Einzelne Instrumentalisten unterziehen sich extremen Übungen, von denen sie annehmen, dass sie ihre Technik verbessern werden – Robert Schumann beispielsweise ruinierte seine Karriere als Pianist mit einer Übungsvorrichtung, die dazu gedacht war, seine Finger zu stärken und so sein Spiel zu verbessern, aber genau das Gegenteil bewirkte.(Anmerkung 2) Die Intensität der Beziehung von Künstler:innen zu ihren Instrumenten ist ein Nebenprodukt der Intensität, mit der wir Werkzeuge in unsere physischen Gesten integrieren. Wir sprechen hier von «tiefer Inkorporation» – ausgehend vom Lateinischen in corpus (in den Körper). Haben wir einmal eine gewisse Fertigkeit mit einem Werkzeug erreicht, denken wir gar nicht mehr über dessen Gebrauch nach, wir bedienen es instinktiv. Wir wissen, ohne uns bewusst entscheiden zu müssen, was bestimmte Bewegungen auslösen werden, und handeln entsprechend. Der Gebrauch des Instruments wird instinktiv. Es wird zu einem Teil von uns.