Wie ein «Conditioner für die Seele». Redet Silvia Careddu über das Instrument, das sie spielt, spricht sie in Bildern. Die tiefen Töne, die sie besonders mag, klingen bei ihr «wie Butter». Was aber das Spiel auf der Querflöte so besonders mache, sei der direkte Kontakt zwischen ihrem Atem – «meinem Innersten, meiner Seele» – und dem Instrument. «Es ist wahrlich eine Zauberflöte, wie Mozart sagte.» Ab diesem Herbstsemester unterrichtet Careddu nun als Hauptfachdozentin an der ZHdK.
«Pardon, mein Leben ist gerade sehr kompliziert!», schreibt sie, als sie unseren ersten Gesprächstermin kurzfristig absagen muss. Man habe versucht, in ihre Wohnung einzubrechen. Paris, 16. Arrondissement, einen Steinwurf vom Eiffelturm entfernt und nah der Arbeit im Orchestre National de France im Rundfunkhaus. Auf dem Weg dorthin läuft sie die prächtige Rue Jean de La Fontaine entlang. Sie liebt das Musée d’Orsay, hat gern Schönes um sich. «Ich komme schliesslich aus Italien!» Die Sardin spricht ein bei den Vokalen weit ausholendes Deutsch, das einen sofort umarmt. Nun aber wartet sie auf die Polizei. Wir vertagen unser Interview, hören uns einige Tage später, sie packt gerade für Japan. Ein Leben aus dem Koffer, aber no regrets. Alles so, wie sie es sich immer gewünscht habe. Als sie sich das nächste Mal meldet, schaut sie über den Shinjuku Gyoen in Tokyo, dort wolle sie gleich spazieren gehen: «Ich bin immer auf Tempo 100, aber mit Pausen, sonst würde ich explodieren.»
«Das wollte ich auch!»
Mit der Berufung nach Zürich gehe für sie ein Traum in Erfüllung, sagt sie. Bürli und Baguette, Limmat und Seine. Careddu wird zwischen Paris und Zürich pendeln. «Die ZHdK ist für mich wie ein Labor, in dem viel ausprobiert, entdeckt und zur Welt gebracht wird. Zürich ist für mich ein Ort, um anzukommen.» Careddu gehört heute zu den prägenden Flötist:innen ihrer Generation. Sie spielt als Solistin an bedeutenden Festivals, ist eine viel gefragte Kammermusikpartnerin und Jurorin an zahlreichen Wettbewerben, gibt Meisterkurse in Europa und Asien. Als Jugendliche wollte sie eigentlich lieber Klavier spielen lernen. Erinnert sie sich zurück, sieht sie sich auf dem Schoss der Mutter am Flügel sitzen. Sie wächst mit Opern und Sinfonien auf und mit der Gewissheit, dass Musik «die beste Medizin» ist. Der Vater spielt in seiner Freizeit begeistert Gitarre, die Mutter unterrichtet Musik an einer Primarschule. Dass Careddu Klavier spielen möchte, will den Eltern nicht so recht gefallen. «Sie sagten immer: ‹Wenn du Klavier spielst, können wir nicht in den Urlaub fahren. Es gibt dort kein Klavier und so lange nicht zu üben geht nicht. Die Querflöte wäre perfekt für dich!› Ich war alles andere als begeistert.»
Dass es dann doch noch geklappt hat mit der Flöte, ist der Mutter zu verdanken. Die die widerwillige Tochter mit an ein klassisches Konzert nimmt. Variationen über «Trockne Blumen» für Flöte und Klavier von Franz Schubert. Das Versprechen, am Wochenende in die Disco zu dürfen, lässt die Tochter mitgehen. «Sobald der Flötist aber zu spielen begann, war ich hingerissen. Das wollte ich auch!» Der Flötist war Riccardo Ghiani, nach dem Konzert spricht sie ihn an. «Wegen seiner Art zu musizieren wollte ich nichts anderes mehr, als Querflöte studieren.» Sie nimmt bei ihm Unterricht, übt täglich drei, vier Stunden. Sie geht zum Studium nach Rom und Paris. Will lernen, ist konzentriert und macht viel Sport. Im Interview kommt sie immer wieder auf ihre Mentor:innen zu sprechen. «Von allen konnte ich etwas mitnehmen, ob zur Technik, Virtuosität oder Dynamik.» Sie nennt Namen wie Aurèle Nicolet («ein Tsunami in meinem Leben!»), Florence SouchardDelépine, Emmanuel Pahud: «Bei ihm sieht man keine Mühe beim Spiel. Ich habe von ihm gelernt, auch den Körper als Instrument zu beherrschen.»
«Ich wurde zweimal geboren»
Der Kickstart für Careddus Karriere ist der Gewinn des Premier Grand Prix à l’unanimité und des Publikumspreises des 56. Concours international de Musique de Genève. In diesem Jahr steht sie dem Wettbewerb als Präsidentin vor. Mit ihm habe alles begonnen, Konzertanfragen und erste Reisen nach Japan und Korea. Dann wird sie Soloflötistin des Orchesters Filarmonica Arturo Toscanini, des Konzerthausorchesters Berlin, der Wiener Symphoniker und der Wiener Philharmoniker. Zwei Jahre spielt sie bei den Wiener Philharmonikern, erhält dort aber keine Festanstellung. Careddu atmet tief aus: «Manchmal läuft es nicht so, wie man es sich wünscht, aber das Leben macht fast nie Fehler. Zurückblickend bin ich mir sicher, dass es so kommen sollte.» Der Rückschlag verpasst ihr einen Dämpfer. Sie braucht Zeit, um den zu verdauen. Heute sagt sie, dass sie zweimal geboren worden sei. Das erste Mal in Cagliari auf Sardinien. Sonne, Wind, Salz in der Luft. Zum zweiten Mal, als sie das Probespiel des Orchestre National de France besteht. «Ich war zurück im Spiel. Bereit, zu gewinnen oder zu verlieren. Ich bin wieder aufgestanden.»
Auch das möchte sie ihren Studierenden mitgeben: sich nicht entmutigen zu lassen, wenn man scheitert. «Ich möchte den Studierenden eine Spur vorgeben, sie vorbereiten auf das, was im Leben auf sie zukommen wird. Über meine Klasse hinaus möchte ich ein positives Gruppengefühl vermitteln, auch in der Zusammenarbeit mit den tollen Kolleg:innen der ZHdK.» In der Musik brauche es aber auch sehr viel Disziplin und Präzision. «Ich möchte die Liebe der Studierenden zur Musik so stärken, dass sie ein Leben lang hält.» Als Dozentin will sie Autonomie vermitteln und die Lust am Experimentieren. «An der ZHdK kann man in die verschiedenen Bereiche eintauchen, mit jungen Komponisten, elektronischer Musik, Designer:innen oder Tänzer:innen arbeiten. Auch wenn man etwas nicht mag: Man muss es erleben. Türen öffnen und schauen, was sich dahinter verbirgt. Das ist der Schlüssel zur Freiheit.»