Mit der Geschichte von Kunst und Kultur (im Folgenden der Einfachheit halber Kunst) ist es wie mit der Geschichte von Staaten: Phasen der Isolation wechseln sich ab mit Phasen der Vernetzung. Mal scheint es geboten, sich abzuschotten, wie es China und Japan in der Neuzeit getan haben. Mal scheint es geboten, die Grenzen zu öffnen und Transfers auf diversen Ebenen zu ermöglichen, wie es die heutigen EU-Staaten tun.
Logierte europäische Kunst – abgesehen von Alltags- und volkstümlichen Formen – lange in der Gated Community aristokratischer und klerikaler Mächte, drängt sie seit dem 19. Jahrhundert erst in die westliche, dann die globale Öffentlichkeit, wo sie mit allen möglichen sozialen Systemen interagiert. Transfers zwischen Kunst und Gesellschaft sind nun an der Tagesordnung. Zugleich pocht Kunst immer wieder auf Autonomie, ruft Prinzipien wie «L’art pour l’art» aus oder setzt sich als «Avantgarde» von der Gesellschaft ab. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Hintergrund der Vereinnahmung von Kunst durch totalitäre Regime, hatte in Europa die Autonomie der Kunst einen hohen Stellenwert. Transfer stand unter Verdacht, etwa in der einflussreichen «Ästhetischen Theorie» Theodor W. Adornos.
Zwar wurde Kunst immer hybrider, beispielsweise durch Performance Art, Installationskunst, künstlerische Forschung oder Protestkunst. Die Transfers zwischen Kunst und Wissenschaft, Kunst und Aktivismus, Kunst und Politik, Kunst und Wirtschaft, Kunst und Tourismus nahmen faktisch zu und tun es weiterhin. Dass der einst primär in der Wissenschaft beheimatete Begriff «Experiment» heute eine grosse Rolle in den Künsten spielt, zeugt ebenso davon wie die Evolution der Museen hin zu niederschwelligen Eventlocations. Doch das Beharren darauf, dass Kunst ein autonomes, also «eigengesetzliches» System sei, gehörte in der Nachkriegszeit zum guten Ton. Heute ist das anders. In Zeiten von Inter-, Trans- und Multidisziplinarität, aber auch Vernetzung, Digitalität, Diversität, Hybridität, Fluidität und Transkulturalität ist nicht nur intensiver Transfer zwischen Kunst und, nun ja, allem anderen gefragt. Wo Transfer zur Normalität wird, gleichen sich die Bereiche auch einander an. Obendrein wird die Kunstautonomie per se als romantische Illusion zu Grabe getragen. Aus dem Singlehaushalt der Kunst wird eine polygame WG.
Im postindustriellen Kapitalismus dient Kunst als Ideenreservoir, das immer dann angezapft wird, wenn Fortschritt und Wachstum zum Erliegen zu kommen drohen. Daran ist zunächst einmal nichts Schlechtes. Wenn die materiellen Grundbedürfnisse abgegolten sind, öffnen sich Räume für Kreativität und Ästhetik. Wohlstand und ein Geist der Liberalität begünstigen die Verkunstung der Welt. Der Kulturwissenschaftler Gernot Böhme spricht vom «ästhetischen Kapitalismus», in dem neben unsere stillbaren Bedürfnisse unstillbare, unendlich vervielfältigbare «Begehrnisse» treten. Problematisch wird es, wenn Kunst nur noch als Rohstoff angesehen wird, der zweckdienlich ausgebeutet wird, oder als Dienstleisterin dessen, was die Tagespolitik als «gut» einstuft.
Man kann es nicht oft genug betonen: Kunst ist keine Hofschranze von Wirtschaft, Politik oder anderen Machtinstanzen. Unterschiedliche Systeme können nur dann voneinander lernen und einander durch Checks and Balances korrigieren, wenn sie sich ihre Eigenlogiken und Eigenwertigkeiten bewahren. Und warum sollte sich die Wirtschaft für eine Kunst begeistern, die sich ihr anverwandelt und andient, die wie sie in Kategorien des Zweckrationalismus operiert, die sich modularisiert, quantifiziert, ökonomisiert, touristisiert? Und warum sollte Politik Interesse an Transferleistungen einer Kunst haben, die ihrerseits politisiert ist? Gelingenden Transfer gibt es nur, wenn Distanzen, Differenzen und auch Hürden zwischen verschiedenen Systemen bestehen. Wir sollten gerade heute wieder den Mut haben, selbstbewusst auf die Autonomie der Kunst zu pochen – nicht im Sinne elitärer Exklusion, sondern im Sinne einer echten Pluralität und Diversität, die sich nicht auf Oberflächenkontraste beschränkt.