Zwischen Schule und Theater: über das Potenzial der Zusammenarbeit

    Andreas Bürgisser ist sowohl Theaterpädagoge als auch Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bachelor Theaterpädagogik und Mitarbeiter am Institute for the Performing Arts and Film (IPF) an der ZHdK. Er beschäftigt sich in wechselnden Rollen mit der Verbindung zwischen Schule und Theater. Im Interview teilt Bürgisser seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern.

    Von Liliane Preissle
     

    Foto: Kinder mit Ballons im Toni Areal
    In Bildungsstätten beobachtet Andreas Bürgisser als Theaterpädagoge regelmässig den Übergang von der performativen Kunst zum regulären Schulalltag. Foto: Regula Bearth.
    Mit welcher Art Schulklassen arbeitest du als Theaterpädagoge?

    Andreas Bürgisser: Meine Arbeit umfasst die Zusammenarbeit mit verschiedenen Altersgruppen, angefangen beim Kindergarten bis hin zum Gymnasium und zur Berufsschule. Die Altersstufe wechselt je nach Projekt. In den Bildungseinrichtungen kann es vorkommen, dass ich sowohl eine einzelne Schulklasse als auch das gesamte Schulhaus betreue. Ein Beispiel dafür ist mein jährliches Projekt an einer heilpädagogischen Schule. Bei der Zusammenarbeit mit Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen empfinde ich die Unterrichtsgestaltung als ebenso kreativen Prozess wie die Vorbereitung einer Theaterprobe.

    Wo liegt dein Fokus bei der Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern?

    Das ist eine Frage, die ich wahrscheinlich jeden Tag anders beantworten würde. Ich arbeite gerne an Schulen und beschäftige mich aktuell auch theoretisch mit der Schnittstelle zwischen Schule und Theater. Meine praktische Arbeit an Schulen richte ich so aus, dass ich mit allen Beteiligten in ein Verhandeln zu kommen versuche. Das heisst, wir diskutieren, was wir tun und warum wir dies tun. Sowohl die Art und Weise, wie wir dies tun, als auch die Räume, in denen wir es tun, unterscheiden sich vom Schulalltag. Diesem Übergang von Unterrichtspraktiken zu Probepraktiken muss man Zeit und Raum geben. Denn dabei entstehen immer interessante Zwischenformen von Schule und Theater, und genau darin sehe ich ein grosses Bildungspotenzial. Den einen klaren Fokus gibt es für mich nicht.

    Wie sieht ein solcher «Übergang» in der Praxis aus?

    Ein solcher Moment tritt zum Beispiel ein, wenn Schülerinnen und Schüler vorgegebene Spielregeln verstehen und diese umsetzen, indem sie aktiv miteinander spielen, anstatt nur zuzuhören und Fragen zu stellen. Oder wenn sie sich während des Spiels darauf konzentrieren, was im Spiel passiert und benötigt wird, statt sich Sorgen zu machen, dass sie sich vor anderen blamieren könnten. Wenn plötzlich alle in Gruppen unterwegs sind, um Material zu sammeln, bei der Hauswartin eine Leiter zu holen, auf dem Pausenplatz Stimmen einzufangen, im Gang eine Choreo weiterzuentwickeln: wenn sich also ein eigentlicher Projektsog entwickelt und die Bewegung nicht nur von meinen Inputs und Ansagen abhängt. Ein weiteres Beispiel wäre, wenn in einer Theaterprobe eine Lehrperson den Kopf reinsteckt und leise einen Namen ruft, weil die besagte Person noch einen Mathematiktest nachholen muss. Oder wenn ich im Schulzimmer stehe, die Klasse mich schon fünf Minuten beobachtet hat und die Lehrperson mir endlich das Wort erteilt. Das alles sind individuelle Übergänge.

    Was bedeutet für dich der Übergang von der performativen Kunst zur Schule am selben Tag?

    Ob in einer Theaterwoche oder beim Freifach «Theater», der Übergang vom Schulalltag zur Theaterprobe findet zum Teil täglich statt: vom «Sitzen auf dem Stuhl» zum «Sitzen im Kreis am Boden», vom «Gehen im Raum» zum «Beobachten des Geländes um die Schule herum», sehr oft aber auch vom «Sie» zum «Du». Dabei bleibt man zwar immer in der Schule, befindet sich aber doch irgendwie in einem Dazwischen.

    «Warum ist eigentlich alles so, wie es ist?»

    Andreas Bürgisser
    Was bedeutet das für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler?

    Ich sehe das Potenzial darin, dass als normal und alltäglich Empfundenes als etwas «Anderes» wiederentdeckt werden kann. Vielleicht verändert sich also das, was einem so vertraut ist und oft unbewusst wahrgenommen wird, zu etwas bewusst Wahrnehmbarem. Wenn jemand die Zimmerwand rot streicht und man plötzlich bemerkt, dass sie nicht mehr weiss ist. In solchen Momenten entsteht Raum für Veränderung, Bewegung, Verhandlung: Es stellt sich die Frage: «Warum ist eigentlich alles so, wie es ist?»

    Wie sieht deine Rolle aus, bist du Begleiter oder Beobachter?

    Obwohl mein Ziel darin besteht, das kreative Gestalten bei den Schülerinnen und Schülern durch Aufgaben, Spiele und soziale Rahmungen zu fördern, würde ich mich nicht nur als Begleiter oder Beobachter bezeichnen. Ich will vielmehr ein gleichwertiger Partner sein, der den Prozess verantwortet und seine Theatererfahrungen ins Spiel bringen kann. Ich sehe meine Aufgabe darin, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Schülerinnen und Schüler sicher genug fühlen, um sich vor anderen anders zu verhalten als gewohnt. Die Theaterpädagogik-Professorin Ute Pinkert-Schlegel hat die Rolle von Theaterpädagoginnen und -pädagogen einmal treffend als «Rahmenmacherinnen und -macher» beschrieben.

    Wie siehst du den Übergang zwischen Theaterpädagogik und Schule in Zukunft und welche Massnahmen würden diesen weiter verbessern?

    Für die Zukunft wünsche ich mir, dass Schulen und Theater nicht mehr als getrennte Bereiche betrachtet werden, sondern dass sie gemeinsam nach Schnittstellen zwischen einander suchen und diese nutzen. Ich glaube daran, dass Schulen und Theater zusammenarbeiten sollten, um die Welt mit theatralen und performativen Mitteln zu erforschen. Wenn es in ein paar Jahren zumindest auf Sekundarstufe 2 Theater als ein Schulfach geben wird, hoffe ich, dass es auch eine dritte Position geben wird, die sich zwischen Schule und Theater ansiedelt. Eine Position, die bemüht sein wird, Praktiken wie Improvisation, neue Formen der Verhandlung und des Dialogs in den Schulalltag zu tragen.

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