«No One Is An Island»

    Die Situation von Migrantinnen und Migranten, die über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen suchen, betrifft uns alle, zugleich wirkt sie in einem Kontext wie Zürich sehr weit weg. Wie kann sich Kunst zu dieser Realität in Beziehung setzen? Diese Frage war einer der Ausgangspunkte der Summer School Art and Activism: Experiences of Interdependence, die das Institute for Contemporary Art Research (IfCAR) der ZHdK im September 2023 am Istituto Svizzero in Rom (ISR) durchführte. 

    von Marcel Bleuler
     

    Entwickelt wurde die Summer School von Marcel Bleuler (IfCAR) und der italienischen Kuratorin und Aktivistin Sara Alberani. Sie ist Co-Leiterin der Kunst-Plattform Locales in Rom und Mitglied des Netzwerkes Mediterranea – Saving Humans, das Seenotrettung durchführt und diverse Unterstützungs-Strukturen für Migrantinnen und Migranten organisiert. Die Teilnehmenden der Summer School waren Studierende und Forschende des Departement Fine Arts (DFA) sowie Professorinnen und Professoren der Universität Mozarteum Salzburg, einer Partnerinstitution des IfCAR. Die zwölfköpfige Gruppe kam bereits Monate vor dem Aufenthalt in Rom regelmässig zusammen, um den gemeinsamen Feldforschungsprozess zu planen. Dabei öffnete sich der ursprünglich auf Mittelmeer-Migration angelegte Fokus hin zu grundsätzlichen Fragen: Welche gesellschaftlichen Dringlichkeiten stehen in Rom aktuell im Zentrum, und wie werden diese von aktivistischen Gruppen angegangen? Welche Handlungsräume entstehen, wenn Kunst mit Aktivismus und sozialem Engagement zusammenkommt? 

    Die Gruppe einigte sich auf ein dichtes Programm an Begegnungen mit selbstorganisierten Strukturen und aktivistischen Kreisen in Rom, die sich verschiedentlich für soziale Gerechtigkeit, für Massnahmen gegen die Klimakrise sowie für Resilienz in marginalisierten gesellschaftlichen Zusammenhängen einsetzen. Immer wieder stand dabei auch die Frage im Raum, wie sich der Outcome dieser Begegnungen schliesslich in eine Abschlussveranstaltung am ISR übertragen liesse. 

    Foto: Summer-School-Gruppe beim Gespräch
    Die Summer-School-Gruppe beim Gespräch mit Gründungsmitgliedern von Spin Time, einem selbstorganisierten Wohn- und Community-Projekt in Rom. Foto: Marcel Bleuler

    Das Interesse, aus dem Kunstfeld herauszugehen, sich mit gesellschaftlichen Dringlichkeiten respektive mit aktivistischen Praktiken auseinanderzusetzen, ist in der zeitgenössischen Kunst etabliert. Diesbezüglich wird oftmals von einem «Dialog» gesprochen. Gerade dieser Begriff führte in den Vorbereitungstreffen auch zu kontroversen Diskussionen, da er dahingehend verstanden werden kann, dass es sich bei Kunst und Aktivismus um getrennte Einheiten handeln würde. Dem hielt die Gruppe entgegen, dass es im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Dringlichkeiten gerade nicht darum gehe, in Abgrenzungen zu denken und eine eigene Position zu profilieren. Vielmehr sollten übergreifende Interessen und Ansätze im Zentrum stehen, die sozialen Wandel fördern können. 

    Diese Haltung gab den Ton für die Summer School an. Täglich wurden verschiedene Kontexte und Personen in Rom aufgesucht und gemeinsam Denkräume ausgelotet. Einer der Angelpunkte stellte Spin Time dar, ein seit zehn Jahren besetztes Areal im Stadtzentrum. Hier leben heute etwa 150 mehrheitlich migrantische Familien, die keinen Zugang zum Wohnungsmarkt in Rom haben. Spin Time ist ein selbstorganisierter Mikrokosmos. Es gibt Anlaufstellen, Infrastrukturen für kulturelle Produktion sowie ein «Museum der Gastfreundschaft». Ziel sei es, so das Gründungsmitglied Giulia Fiocca, «too big to evict» zu sein – Spin Time soll also zu gross und zu bedeutend sein, um geräumt zu werden. Zu diesem Zweck würde man punktuell sogar mit dem Vatikan zusammenschliessen, der auch eine symbolische Besetzung des Petersdoms gewährte, um Aufmerksamkeit für Wohnungslosigkeit in Rom zu schaffen. 

    Foto: Symbolische Besetzung des Petersdoms
    Fotos der symbolischen Besetzung des Petersdoms, ausgestellt im Museo dell’Atto di Ospitalità (MAd’O). Foto: Marcel Bleuler

    Um die Prinzipien der Sichtbarkeit und gegenseitigen Unterstützung drehte sich auch die Begegnung mit Alexandra Lopez, einem Mitglied der 2020 gegründeten Feel Good Cooperative. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von transsexuellen Sexworkerinnen und Sexworkern, die während des ersten Lockdowns gemeinsam mit der Künstlerin Pauline Curnier Jardin einen Raum initiierten, um zusammenzukommen, sich auszutauschen und künstlerisch auszudrücken. Ähnlich wie die Initiantinnen und Initianten von Spin Time ist Lopez überzeugt: «Niemand kann sich allein retten.» 

    Die Betonung von Gemeinschaft und Zusammenschluss war ein roter Faden der Summer School. Dabei ging es nicht nur um Menschen. So führte etwa der Künstler und Aktivist Andrea Conte in einem Streifzug durch seine verschiedenen Projekte in Praktiken des Beziehungsaufbaus zu nicht-menschlichen Akteurinnen und Akteuren – in seinem Fall insbesondere zu Flüssen und vermeintlichem Unkraut in Rom. 

    Foto: Summer-School-Teilnehmende bei der Produktion des Zines für die Abschlussveranstaltung
    Summer-School-Teilnehmende bei der Produktion des Zines für die Abschlussveranstaltung. Foto: Marcel Bleuler)
    Foto: Summer-School-Teilnehmende bei der Färbung von Tischtüchern mit Pflanzen, die im städtischen Raum gefunden wurden
    Summer-School-Teilnehmende bei der Färbung von Tischtüchern mit Pflanzen, die im städtischen Raum gefunden wurden. Foto: Marcel Bleuler

    Durch die einzelnen Begegnungen kam die Summer-School-Gruppe zu gemeinsamen Referenzen, aus denen sich die Ideen für den öffentlichen Abschlussevent am ISR ergaben. Die Gruppe entschied, ihre Begegnungen und Einsichten so erfahrbar zu machen, dass nicht nur das Kunstpublikum Zugang findet, sondern gerade auch jene Menschen, um die es bei den Begegnungen ging. In Zusammenarbeit mit Barikamà, einer sozialen Kooperative ehemaliger Plantagearbeiterinnen und -arbeiter aus Westafrika, wurde ein Imbiss im Park des ISR geplant. Für die Gestaltung des Buffets nahmen einige Gruppenmitglieder den Impuls von Umweltaktivistinnen und -aktivisten sowie Kunstschaffenden auf und färbten mit natürlichen Ressourcen Stoffe, auf die zentrale Slogans aus den Begegnungen der Summer School gestickt wurden. Andere Teilnehmende produzierten ein Zine, in dem wichtige Aussagen aus der Woche collagiert wurden.  

    Der Anlass wurde durch eine Rede von Barikamà eröffnet, woraufhin alle Summer-School-Teilnehmende Trinksprüche auf die Anliegen und Personenkreise machten, die sie angetroffen hatten. Diese Inputs bildeten die Grundlage, mit den Besuchenden ins Gespräch zu kommen. Es handelte sich hauptsächlich um ein typisches Kunstpublikum, das nur wenig von den aktivistischen Kreisen in Rom wussten, die dort zum Tragen kommen, wo der Staat nicht greift. In einem gewissen Sinne hat die Summer School mit dem Event den Rahmen der Kunst(-Institution) gekapert, um gerade diese Aufmerksamkeit für soziale Dringlichkeiten und die Möglichkeiten, ihnen zu begegnen, zu stärken. 

    → Mehr aus dem Departement Fine Arts