Resilienz – Modus Vivendi des Gemeinsamen zwischen jetzt und immerfort

    Porträt Dr. Karin Mairitsch

    Der Jahresbericht widmet sich dem Thema «Resilienz». Was könnte in Zeiten rasanten Fortschritts, dynamischen Wandels und überraschender Ereignisse treffender sein? Resilienz wird als Fähigkeit verstanden, sich von den Unwägbarkeiten der Gegenwart nicht lähmen zu lassen, sich anzupassen an das, was stets in Veränderung begriffen ist, widerstandsfähig zu bleiben. Es überrascht wenig, dass diese Fähigkeit heute im Fokus steht und der Ruf, sie zu stärken, laut wird.

    Ich möchte da nicht einstimmen. Jede Aufforderung, noch mehr auszuhalten, sich noch biegsamer einzufügen, liegt mir fern. Ich frage mich vielmehr, wer oder was starr und resistent ist und wer oder was bewegt und resilient sein müsste. Was, wenn Systeme neu gedacht werden müssten, um dem Menschen nur jene Resilienz abzuverlangen, die nötig ist, um ein Leben zu bewältigen? Was, wenn Systemgrenzen und Normative sich dem Menschen und der Umwelt in deren Bewegungs- und Entwicklungsmustern anzupassen versuchten?

    Als gesellschaftlicher Resonanzboden denkt eine Zürcher Hochschule der Künste nach und gräbt tief. Sie nähert sich den Problemen und deren Lösung reflektiert. In iterativer Unermüdlichkeit entwickelt sie Szenarien, die helfen, Lösungen zu finden. Und wenn ich von der ZHdK schreibe, dann meine ich alle Studierenden und Hochschulangehörigen, auch Absolventinnen und Absolventen, die in Veränderungsprozessen gesellschaftsrelevant sinn- und identitätsstiftend Fragen stellen und Lösungen aufzeigen.

    Lernen

    Was früher Ausnahmezustand war, kennen wir heute als Normalzustand. Veränderungen in rascher Folge mit eklatanten Improvisationserfordernissen bei knappen Ressourcen sind leider Alltag geworden.

    Unter diesen Voraussetzungen ein neues Studienmodell zu implementieren, mag gewagt sein. Doch es ist auch eine der erfüllendsten Aufgaben, künftige Generationen für jene Unvorhersehbarkeiten vorzubereiten, welche die Dynamik des Wandels mit sich bringt. In diesem Licht steht das Major-Minor-Modell, bei dem wir weitere Meilensteine erreicht haben. Künftig können Studierende ihren Studienschwerpunkt, den Major, mit einer Auswahl aus etwa 90 teils disziplinenübergreifenden Minors individuell vertiefen. Das Major-Minor-Modell ist ein hervorragendes Gefäss, um Spezialisierungen und Generalisierungen, Tradition und Zukunft sowie individuelle Bedürfnisse und fachliche Bedarfe abzubilden. Das Studienmodell wird zum Katalysator für vielfältige und sich ständig ändernde Berufsfeldqualifikationen.

    Das Major-Minor-Modell ist ein Beispiel fortwährenden Lernens. Wie schon die Vorbereitung stellt auch die Implementierung eine grosse Herausforderung dar, bei der wir in enger Taktung aufkommende Unsicherheiten und Hindernisse bewältigen. Durch seine inhaltliche Beweglichkeit innerhalb der strukturellen Stabilität vermag das Major-Minor-Studiensystem Entwicklungen im beruflichen, fachlichen oder didaktischen Kontext rasch aufzugreifen. Wir gehen davon aus, dass mit diesem Modell ein ständiges Lern-, Reflexions- und Aushandlungsfeld eröffnet ist.

    Zu den Lernprozessen gehörte auch das Einleiten einer Administrativuntersuchung zur Ballettausbildung. Ehemalige Studierende der Tanz Akademie Zürich (taZ) hatten Vorwürfe zu den Lehrmethoden und dem Umgang mit dem Körpergewicht an der taZ erhoben. In einem ersten Schritt ist mittlerweile ein Interims-Leitungsteam eingesetzt worden.

    Teilhaben

    Es gibt in Veränderungsprozessen immer Hochs und Tiefs. Diese «Berg-und-Tal-Fahrt» mag anstrengend sein, doch erzeugt sie auch ein Klima der Reflexion und Beteiligung. Sie ist Zeugnis des Engagements der Beteiligten. Durch eine Pulsbefragung der Mitarbeitenden zu ihrer Arbeitssituation und zum Major-Minor-Projekt konnten wir wichtige Handlungsbereiche für die Zukunft identifizieren. Insgesamt dürfen wir festhalten, dass die ZHdK nach wie vor eine attraktive Arbeitgeberin ist, dass es aber doch auch darum gehen muss, die Komplexität von Prozessen zu verringern.

    Umdenken

    Die Welt ist in Bewegung. Selbstverständlich reagiert eine Institution wie die ZHdK auf das, was um sie herum geschieht. Sie ist Teil der Gesellschaft, sie übernimmt Verantwortung und prägt so kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Diskurse mit. Weswegen Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität und Gleichstellung oder digitale Transformation sowohl institutionell als auch im Kontext der Disziplinen aktiv bewirtschaftet werden.

    Für einen ökologisch und sozial verantwortungsvollen Hochschulbetrieb wurden Ziele definiert, die in der «Teilstrategie betriebliche Nachhaltigkeit» festgehalten sind. Nun hat die Arbeit an einem Dekarbonisierungspfad begonnen und im Hinblick auf eine mögliche Strom- und Gasmangellage ist eine Task Force Energie eingesetzt worden. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nimmt die ZHdK geflüchtete Studierende als Gaststudierende auf. Mit den «Leitlinien für die internationale Zusammenarbeit» hat sie zudem eine wichtige Grundlage für ihre internationalen Kooperationen geschaffen. Für das Projekt Shenzhen International School of Design (SISD) wurde ein «Ethics Committee» bestellt.

    Neu anfangen

    Der Boden, auf dem wir wandern, wird immerfort erneuert. Neugier, unser Wille zur Gestaltung und unser Bekenntnis zu höchster Qualität machen diesen Boden fruchtbar, doch verlieren wir gelegentlich das Gelungene aus den Augen. Von aussen betrachtet, sind wir jene, die nach vorne streben. Konzentrieren wir uns also auf das, was wir ausserordentlich gut können: Bringen wir unsere Projekte zu Ende, tragen wir sie in die Öffentlichkeit – überzeugt von ihrer Ausserordentlichkeit.

    Seit Oktober 2022 bin ich Rektorin an dieser Hochschule der Künste, die grossartig ist: regional und international sichtbar, unter den Besten weltweit. Wir werden uns weiter auf die Dynamik der Zukunft einlassen, was eben auch zu einem Qualitätsmerkmal geworden ist. Resilienz, wie ich sie verstehe, ist unter anderem ein Blick voller Weichheit auf das Geleistete, der Fehler als Chancen begreift und Erfolge persönlich nimmt; ist gemeinsame Neugier, bei der Haltungen, Vorstellungen, Ressourcen und Möglichkeiten miteinander in Beziehung stehen; ist ein Modus Vivendi zwischen Lernen, Loslassen, Umdenken, Teilhaben und Neubeginn.

    Dr. Karin Mairitsch
    Rektorin, Zürcher Hochschule der Künste