Die Schmerz-Dialoge

    Das artists-in-labs program (AIL) der ZHdK fördert die künstlerische Forschung, indem es für Kunstschaffende Aufenthalte in Forschungslabors kuratiert, organisiert und begleitet. Tabea Rothfuchs hat eine sogenannte Residency am Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil absolviert. Für ihre Masterarbeit führte sie neben virtuell umgesetzten Interviews auch ein performatives Quarantänegespräch.

    Bild: Kunstinstallation
    «Sprechen wir über den Schmerz»: Gesprächssituation vor dem Zentrum für Schmerzmedizin. Foto: Flurin Fischer © ZHdK

    Er ist da und doch sieht man ihn nicht: Der Schmerz ist ein unsichtbarer Gast, ein ungebetener, der im Fall von chronischen Krankheiten nicht mehr gehen will. Patientinnen und Patienten fühlen sich oft isoliert und von ihren Schmerzen fremdbestimmt. Viele kommen nach jahrelangen Abklärungen ins Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil, das Teil des Schweizer Paraplegiker-Zentrums ist. Dort werden Ursachen in den Bereichen Somatik, Psyche und Funktion untersucht und Erfolg versprechende Behandlungen in die Wege geleitet. Tabea Rothfuchs, Studentin im Master Transdisziplinarität, führte im Rahmen einer Residency am Zentrum für Schmerzmedizin performative Quarantänegespräche mit Betroffenen und medizinischem Fachpersonal. 

    Von Luftobjekten und Satzfragmenten

    Prozessbasiert und ergebnisoffen sollen künstlerische Arbeiten angegangen werden. Als Tabea Rothfuchs ihre Residency am Zentrum für Schmerzmedizin antrat, wusste sie noch nicht, wie sehr sich dies bewahrheiten würde. Nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie überarbeitete sie innert kürzester Zeit ihr Konzept und setzte es um. «Ich musste mein Werkzeug wechseln und habe mich voll auf die Dialogsituation eingelassen. Üblicherweise höre ich am Anfang zu, beobachte, nehme auf und gehe dann ins Audiovisuelle. In diesem Fall habe ich mich auf Gesprächsinhalte fokussiert und mein Material auf dieser Ebene generiert», beschreibt Tabea Rothfuchs ihre Herangehensweise.

    «Ich musste mein Werkzeug wechseln und habe mich voll auf die Dialogsituation eingelassen.»

    Tabea Rothfuchs, Absolventin Master Trandisziplinarität 

    Mitten im Frühling, als das Zentrum für Schmerzmedizin wegen der Pandemie geschlossen war, stellte sie vor dem Gebäude ein grosses weisses Luftobjekt auf. Ausgerüstet mit Laptop, Kamera und einer Internetverbindung setzte sie sich in das sich im Wind bauschende Stoffkonstrukt. Ihr Angebot: Zeit und Aufmerksamkeit. «Ich beschäftige mich in meiner künstlerischen Praxis fast immer mit dem Menschen», so die Studentin über ihre Motivation. Die Gespräche führte sie sowohl mit Schmerzpatientinnen und -patienten als auch mit dem medizinischen Fachpersonal. Danach hat sie diese erst transkribiert und später abstrahiert, woraus ein Archiv fragmentarischer Texte entstanden ist. Darin finden sich Sätze wie: «Ich will nicht, dass mich dieser Schmerz bestimmt», «Im Moment des Schmerzes ist einfach nichts mehr da» oder «Eigentlich ja komisch, operieren ist doch viel teurer». 

    Bild: Buchpublikation
    Ein Ergebnis der Masterarbeit von Tabea Rothfuchs: die Publikation «I lost time and space. Where am I?» mit fragmentarischen Texten von Schmerzpatientinnen und -patienten. Eine überarbeitete Neuauflage ist an der ZHdK erhältlich. Foto: Tabea Rothfuchs

    Neue Ansätze für Kunst und Wissenschaft 

    Das AIL ermöglicht nachhaltige Zusammenarbeit zwischen Künstlerinnen und Wissenschaftlern aller Disziplinen in der Schweiz und weltweit. Kern bilden die Residencies – mehrmonatige Aufenthalte für Kunstschaffende in Forschungsgruppen renommierter Institutionen. Die Master Series Residency im Speziellen ist ein gemeinsames Angebot des AIL und des Masters Transdisziplinarität. Bestehendes Wissen wird geteilt, reflektiert und neu kontextualisiert, Ideen werden hin und her gespielt und daraus neue Ansätze in Kunst und Wissenschaft entwickelt. In vielen Projekten des AIL ist dieser gemeinsame Arbeitsprozess auch Ausgangspunkt einer langfristigen Zusammenarbeit zwischen der ZHdK und den Partnerinstitutionen.

    «Auch der Schmerz kann isolieren. Trotz der Isolation reden zu können, ist etwas, was unseren Patientinnen und Patienten oft fehlt.»

    Karina Böttger, Leiterin Schmerzphysiotherapie am Zentrum für Schmerzmedizin Nottwil 

    Am Zentrum für Schmerzmedizin finden Spezialistinnen und Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Eine davon ist Karina Böttger, Leiterin Schmerzphysiotherapie. Für sie passt das Luftobjekt sehr gut zum Thema: «Tabea sitzt in einer grossen Blase. Sie ist zwar da, wir sehen sie aber nur über Video. Auch der Schmerz kann isolieren. Trotz der Isolation reden zu können, ist etwas, was unseren Patientinnen und Patienten oft fehlt.» 

    Die vier Monate im Zentrum für Schmerzmedizin ermöglichten Tabea Rothfuchs Einblicke in eine Institution, zu der sie als Künstlerin sonst keinen Zugang gehabt hätte. 

    Bild: Frau vor Laptop in einem Luftobjekt sitzend
    Tabea Rothfuchs in ihrem weissen Luftobjekt. Foto: Martin Steiner © ZHdK

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