Das Projekt untersucht Kunst- und Kulturkonzepte des audiovisuellen Massenmediums «Schweizer Filmwochenschau» (SFW) nach dem Zweiten Weltkrieg anhand von ausgewählten Reportagen und situiert diese im Kontext der Wissensgesellschaft Schweiz. Im Zentrum steht die Frage, welche Rolle Kunst und Kultur in nationalen Selbsteinschreibungsprozessen und -definitionen hatten und wie die SFW zur Konstruktion nationaler Identität beigetragen hat.
Kunst, Kunstbetrieb und Wissensgesellschaft Schweiz. Konstruktionen kultureller Identität in der Schweizer Filmwochenschau 1940–1975. Forschungsgegenstand, Forschungsstand und Fragestellungen: Bis zur Einführung des Fernsehens in den 1950er-Jahren waren Wochen- oder Aktualitätenschauen weltweit die wichtigsten audiovisuellen Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsmedien. Mit ihrer Berichterstattung bezogen sie sich auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben und prägten dieses zugleich mit. In seiner Kritik an diesem Medium gestand Hans Magnus Enzensberger diesem deshalb einen grossen kulturellen Einfluss zu. Dieser Einfluss war besonders stark ausgeprägt bei der «Schweizer Filmwochenschau» (SFW), in welcher den Kunst- und Kulturthemen ein quantitativ wie qualitativ hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Dies und der Filmstil der Reportagen – eine Kombination aus dokumentarischem und fiktionalem Modus – gaben der «Filmwochenschau» ein spezielles Gepräge, das durch die institutionelle Trägerschaft des publizistischen Instruments mitgestaltet wurde. Als staatliches Informationsmedium im Dienst der geistigen Landesverteidigung ab 1940 bis 1975 als Kinovorprogramm produziert, nahm die SFW bis zur Einführung der «Tagesschau» zudem eine Monopolstellung im audiovisuellen Sektor ein. Bis in die 1960er-Jahre erreichte die SFW einen hohen Bevölkerungsanteil. Sie prägte damit wesentlich das kollektive Bildgedächtnis und die Konzeption der kulturellen schweizerischen Identität und des nationalen Selbstbildes. Die SFW ist seit den ausgehenden 1970er-Jahren Gegenstand der Forschung, die einsetzte, kurz nachdem das Massenmedium aufgrund seiner mangelnden Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Fernsehen 1975 eingestellt worden war. Dabei wurde die SFW bisher überwiegend aus mediengeschichtlicher, historischer und soziopolitischer Perspektive untersucht. Wenig erforscht ist die SFW im engeren filmwissenschaftlichen Sinn. Gänzlich unbearbeitet ist die Kunstberichterstattung im Rahmen des Mediums. Von diesen Gegebenheiten ausgehend und in engem Bezug zu ihnen, zielen die zwei kooperativen Forschungsvorhaben, die am Institute for Cultural Studies in the Arts der Zürcher Hochschule der Künste und der Séction d'histoire de l'art der Université Lausanne angesiedelt sind, auf eine umfassende wissenschaftliche Erschliessung des in der «Schweizer Filmwochenschau» vermittelten Bildes des Kunstbetriebs, seiner «Orte», Akteur*innen, Mechanismen und Strategien. Das Doppelprojekt analysiert die den Reportagen zugrunde liegenden Kunstbegriffe und verfolgt den Aufbau von Künstlerkarrieren über dieses Medium. Dabei werden auch geschlechterspezifische Mechanismen und das Funktionieren der narrativen Grundmuster in der Kunstberichterstattung untersucht. Ein besonderes Augenmerk wird des weiteren auf die Spezifika, «Brüche» und «Leerstellen» im Konzept und Stil der Reportagen über die verschiedenen Produktionsjahre hinweg gelegt. Die Beiträge über Kunst, Kunstausstellungen und Künstler*innen werden nicht nur isoliert betrachtet, sondern im Zusammenhang der jeweiligen «Programmnummern» befragt und im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen verortet. Es wird der Art und Weise nachgegangen, wie Berichte über Kunst, Kunstereignisse und Künstler*innen formal und thematisch an vorangehende oder nachfolgende Reportagen angeschlossen sind und dadurch zusätzlich an Aussage gewinnen, konnotativ belegt erscheinen. Auch wird untersucht, wie die einzelnen Kunstsparten und Kunstformen und welche Kunstschaffende auf diese Weise mit anderen Bereichen wie Architektur, Technik, Ingenieurwesen oder Wirtschaft, Konsum, Mode, Freizeitgestaltung u. a. m. zusammengebracht werden. Zielsetzungen und Methode: Die Forschungsvorhaben orientieren sich an der SFW als «Kulturspeicher». Sie gehen von der Prämisse aus, dass Kunst ein komplex funktionierendes und vielfältig vernetztes System symbolischer Formen ist, das seine Leistungsfähigkeit auch über die «Fiktion der Realität» oder die «Realität des Fiktionalen» gewinnt, somit über Eigenheiten und Mechanismen, die der SFW als Medium innewohnen. Das Doppelprojekt untersucht die Interdependenzen zwischen gesellschaftlichem, ästhetischem und medialem Wandel und ortet jene Schnittstellen, die als Zäsuren wirken. Es fragt nach der Bedeutung von Kunst im Kontext nationaler Selbsteinschreibungsprozeduren und staatlicher Selbstdefinition, denen die SFW als Massenmedium auftragsgemäss zudiente. Die Forschungsvorhaben schliessen dabei in zweifacher Hinsicht eine Forschungslücke: Zum einen geht es um einen Untersuchungsgegenstand, der in den bisherigen Arbeiten zur SFW nicht berücksichtigt wurde. Zum anderen ergänzt oder erweitern die beiden Projekte die aus kunsthistorischer Perspektive getätigte Forschung zum schweizerischen Kunstbetrieb, in dem sich damals entscheidende Weichenstellungen vollzogen. Es wird herausgearbeitet, inwieweit die SFW dieser Tatsache in ihren Reportagen Rechnung trug und was sie demgegenüber ausblendete. Es wird erforscht, auf welche Weise – auch filmstilistisch und narrativ – Kunst im Kontext der damaligen Wissensgesellschaft verortet wurde, mit welchem Kunstbegriff welche künstlerischen Tendenzen und welche Künstler*innen aufgegriffen und vermittelt wurden und inwiefern das Medium auch den avantgardistischen und zukunftsorientierten Strömungen Rechnung trug. Es wird damit nach der Funktion und dem Einsatz von Kunst als Bestandteil der damaligen «grossen», da sinnstiftenden schweizerischen «Erzählung» gefragt. Das methodische Vorgehen der Untersuchungen versteht sich deshalb im weitesten Sinne als kontextbezogen und ist, bedingt durch den Gegenstand und dessen Relevanz, interdisziplinär ausgerichtet. Es gründet auf kunstwissenschaftlich, kunstsemiologisch und diskursanalytisch orientierten Theoriebildungen, wobei kunstwissenschaftliche mit filmwissenschaftlichen Analysemethoden verknüpft werden. Damit und über ihren Forschungsgegenstand tragen die beiden Teilprojekte der im Gang befindlichen Neuorientierung kunst- und kulturwissenschaftlicher Arbeitsweise Rechnung, die dem «bewegten Bild» als gesamtgesellschaftlich relevante Quelle im Rahmen einer Visual History zunehmend Beachtung schenkt. Arbeits- und Themenschwerpunkte: Das Doppelprojekt berücksichtigt die Reportagen der gesamten SFW-Produktionsdauer von 1940 bis 1975. Schwerpunktmässig stehen die 1950er- und 1960er-Jahre im Vordergrund – die «klassischen» Jahrzehnte des Mediums – sowie die ersten Jahre der Neuorientierung des medialen Gefässes um 1970 – ein Zeitpunkt, der zugleich für die Entwicklung des schweizerischen Kunstbetriebs entscheidend war. Die Forschungsvorhaben konzentrieren sich auf folgende interdependente Arbeits- und Themenschwerpunkte – der erste wurde im Rahmen eines Habilitationsprojekts erarbeitet, der zweite im Rahmen eines Dissertationsprojekts: A. Kunst- und Kulturbegriff des Massenmediums SFW und Kunst im Kontext der Wissensgesellschaft Schweiz B. Der Kunstbetrieb, seine Bestandteile, Mechanismen, Akteur*innen und seine «Leerstellen». Während der Durchführung der Forschungsvorhaben wird ein moderierter Filmzyklus und eine interdisziplinäre und internationale Tagung veranstaltet, in der die Ergebnisse zum schweizerischen Kunst- und Kulturbetrieb in der SFW im Kontext der internationalen «Wochenschau»-Produktion zu Kunst situiert und diskutiert. Die Ergebnisse werden als Habilitations- und Dissertationspublikation veröffentlicht, zusätzlich erscheint ein gemeinsam erarbeiteter Tagungsband.
Publikation:
Imesch, Kornelia/Schade, Sigrid/Sieber, Samuel (Hg.): Constructions of Cultural Identities in Newsreel Cinema and Television after 1945, transcript Verlag, Bielefeld, 2016