Viele Psychiater in Europa sammelten Werke von Patientinnen und Patienten. Sie untersuchten Fragen zu Geisteskrankheiten oder verglichen die Werke mit der Kunst der Avantgarde. Es lohnt sich, die Dokumente aus dem Leben gesellschaftlich abgesonderter Menschen zu sammeln und aufzubereiten. Sie sind verdichtete Statements dazu, wie Normalität um 1900 verhandelt wurde.
An der Zürcher Hochschule der Künste war von 2006 bis 2014 ein Forschungsvorhaben mit dem Titel «Bewahren besonderer Kulturgüter» angesiedelt. Vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert erstellte ein Team von Forschenden eine Bestandesaufnahme der künstlerischen Werke von Patientinnen und Patienten, die sich in allen kantonalen psychiatrischen Anstalten der Schweiz 1850 bis 1930 erhalten haben. Die Bilddatenbank mit über 5000 Werken steht heute der Öffentlichkeit am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft zur Verfügung. Es fanden sich in 19 der 26 Anstalten Sammlungen. Mancherorts war ein kleines Museum eingerichtet worden, weil Psychiater und Öffentlichkeit dem Thema um 1900 Interesse entgegenbrachten: Fragen zu Geisteskrankheit, Wahrnehmung oder Phantasie tauchten ebenso auf wie Vergleiche mit den «Primitiven» und der Avantgarde. Angehörige hingegen fragten nach der Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten. In ganz Europa gab es Sammlungen oder Ansammlungen von künstlerischen Patient*innenwerken, und die historischen Krankenakten, heute zumeist in Staats- oder Landesarchiven, enthalten Zeichnungen oder Fotografien von Objekten. Diese lange vernachlässigten komplexen Dokumente aus dem Leben gesellschaftlich abgesonderter Menschen lohnt es sich zu sammeln und aufzubereiten.
Die Ausstellung im Rahmen des Projekts «Alles Ferne, Ungewöhnliche. Unbekannte Werke aus psychiatrischen Anstalten in der Schweiz um 1900» soll dazu anregen, die Bestände europaweit zu sichern und zu erforschen. Das Modell des Zürcher Projektes kann als Best Practice, Inventare zu erstellen und Werke zu sichern, dienen. Die Ausstellung möchte die Komplexität und die künstlerische Bedeutung der Werke von (zumeist) Laien aufzeigen. Sie lassen sich in einer Vielfalt von Kontexten verorten: jenem von Anstalt und Behandlung, Sozialgeschichte, Geschlechterrollen, Kunst, Technik und Alltagskultur, normativen Aushandlungen, Inklusion und Ausschluss. Die Ausstellungstexte erscheinen in der Landes- ebenso wie in leichter Sprache, denn Menschen mit besonderen Bedürfnissen und Psychiatrieerfahrene sind als Expert*innen explizit willkommen. Ein Begleitprogramm bietet Fachleuten, Erfahrenen und Betroffenen die Gelegenheit, sich über aktuelle Aspekte des Themas auszutauschen. Die Ausstellung wird in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg (10.10.2018-20.1.2019) und im Kunstmuseum Thun (12.2. 2019-24.4.2019) gezeigt.
Für eine Detailbeschreibung siehe PDF unter Details.