6./7. September 2021
Zürcher Hochschule der Künste
In dem Workshop möchten wir grundsätzlich entdecken, was wir von künstlerischen Ansätzen, die dekoloniale Ansätze verfolgen und von Diskursen, die sie begleiten, lernen können. Wie setzen sich Künstler:innen in ihrer Praxis mit dem – oft unsagbaren und unsichtbaren, aber so tief in unsere Denk- und Handlungsweisen eingeschriebenen – Bedingtsein eines immer noch kolonialisierenden und kolonialisierten westlichen Subjekts auseinander?
Dekoloniale Bewegungen und ihre Diskurse gehen davon aus, dass das moderne und koloniale Projekt nicht nur die wirtschaftlichen, politischen und epistemischen Bereiche des Lebens geformt und unterworfen hat, sondern auch die Bereiche der Sinne und der Wahrnehmung. Diese Kanonisierung und Normativierung von künstlerischen Praktiken soll einerseits durch Benennung und Sichtbarmachung und andererseits durch subversives, neues und eigenes künstlerisches Handeln aufgebrochen und transformiert werden (Mignolo/Vasquez).
Hier wird zweierlei ersichtlich. Erstens wird den Künsten ein emanzipatives Potenzial zugeschrieben. Zweitens sind es künstlerische Praktiken selbst, die dieses Potenzial realisieren können und auf diesem Wege in andere gesellschaftliche Bereiche einwirken.
Wir möchten uns erst darüber verständigen, welche Subjektbegriffe hier eigentlich angesprochen werden, und auf welche Weise diese mit einer gesellschaftlichen Konstitution von künstlerischen Praktiken verbunden werden können. Wenn weiterhin von einem Subjektbegriff die Rede sein kann, muss es um ein Begriffsfeld gehen, das über die subjektkritische Wende, die das Subjekt als situiert, uneinsehbar, unterworfen usw. entlarvt, hinausgeht. Es geht also um den Versuch, künstlerische und auf Emanzipation und Transformation zielende Handlungen von Subjekten trotzdem und in diesem Rahmen zu denken.
Wie gelingt es, die philosophische Auffassung (und Abwertung) der dekolonialen künstlerischen Praktiken als Symptom von Moral und ledigliche Verlängerung der Politik zu modifizieren und zu widerlegen? Mit unserer Einladung zielen wir darauf, mit Euch zu entdecken, wie die dekolonialisierenden Diskurse mit dem Begriff der Emanzipation umgehen. Wir verwenden den Begriff der «Emanzipation» zunächst als einen Platzhalter, um herauszufinden, was sich philosophisch dahinter verborgen hat und welche Schwierigkeiten und Ambivalenzen möglicherweise damit verdeckt worden sind. «Emanzipation» soll als operativer Begriff geprüft werden, um zu fragen, ob damit vielleicht ein transformatives Potenzial der Kunst etwas verkannt oder neutralisiert worden ist.
Um die spezifischen emanzipativen Wirkungen der künstlerischen Praktiken zu umreißen, stellt sich eine fortbestehende Reihe von in der Ästhetik-Tradition kristallisierten dichotomischen Gegensätzen dar. Diese verhindert es, nicht die Entgegensetzung zwischen z. B. Rezeption und Produktion der Kunst, Autonomie und Funktionalismus, Zweck und Zweckfreiheit, sondern deren Verschränkung zu denken. Dass die Verschränkung zugunsten der genauen Bestimmung und folgenden Polarisierung seiner Termini vernachlässigt worden ist, wird in der jüngsten Debatte von mehreren Seiten aus beanstandet.
Ihre «Verdrängung» kehrt unweigerlich zurück, zum Beispiel in der Frage nach Kunst und Nicht-Kunst hinsichtlich einer Autonomie der Künste, die eine Stagnation der so aufgestellten und polarisierten Debatten aufdeckt. Die ästhetisch-philosophischen Denkansätze scheinen weiter in dichotomischen, im besten Fall dialektisch verflüssigten Denkmodellen gefangen zu bleiben. Dem entgegen bieten die dekolonialen Ansätze Modelle der Hybridisierung bzw. ‚Verunreinigung’ des Denkens an, die uns vielversprechend erscheinen. Auf diesem Wege kann die Trennungslinie des traditionellen ästhetisch-philosophischen Diskurses zwischen den Künsten und der Gesellschaft und auch zwischen Theorie und Praxis in Frage gestellt, wenn nicht gar widerrufen werden.
Folgende Schlüsselfragen möchten wir mit Euch diskutieren:
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Reicht es, die historische Kontingenz des Geflechtes mit der Wiederbelebung von klassischen Begriffen der Philosophie des 20. Jahrhunderts (wie zum Beispiel dem Begriff der Situiertheit) geltend zu machen, um die potenzielle Subversion, welche die Subjekte der Kunst für die neoliberale Weltordnung darstellen, zu erfassen?
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Gelingt es dem dekolonisierenden Ansatz, den in der europäischen Denkweise eingenisteten blinden Fleck des neoliberalen herrschenden Subjektes zu entlarven? Und wer entscheidet das?
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Welches emanzipative Ziel verfolgen dekolonialisierende künstlerische Praktiken? Welche Vorstellung eines Gemeinsamen, von dem sie Teil werden wollen, steht womöglich dahinter?
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Welche Rolle kann einer Ästhetik der produzierenden/ handelnden Subjekte im Verhältnis zu den Künsten wahrnehmenden oder die Künste benutzenden Subjekten zukommen? Sollten wir zukünftig eher immersive Perspektiven einnehmen als Perspektiven einer Teilnahme an einem (wenn auch nicht einfach zu bestimmenden) Gemeinsamen?