Handwerk hat einen schweren Stand. In Zeiten von Upcycling, Fortschrittsskepsis und Nostalgie wird es nachgerade mystisch รผberhรถht. ยซHandwerkยป โ der Begriff evoziert alsogleich Bilder von milde lรคchelnd ihre Laubsรคgen durch Vollholztafeln navigierenden Grossvรคtern. Gรผldenes Licht fรคllt durch die halb geรถffnete Eichenholztรผr einer urigen Werkstatt, in der dem Enkelchen ein Balsakrokodil, der Enkelin ein Balsaprinzesschen verfertigt wird. Draussen erstreckt sich eine bukolische Landschaft, voll heiterer Trauerweiden und pummeliger Shetlandponys. ยซHandwerkยป, das ist heile Welt und gute alte Zeit.
Entsprechend haftet dem Handwerk in progressivistisch gestimmten Kรผnstler- und Akademikerkreisen der Ruf des Gestrigen, Staubigen, Politik-, Theorie- und Kunstfernen an. ยซHandwerkยป โ das hat ein paar Nullen und Einsen zu wenig, das tรถnt so gar nicht digital, ja entsetzlich analog! Sรคgemehl statt ยซSophisticated Conceptยป, Schmirgelei statt Revolution, behรคbiges Gebastel statt dringlicher Weltenrettung qua Kunst. Handwerk gebricht es, so betrachtet, an utopischer Wucht.
Zwischen Sklaven und freien Bรผrgern
Tatsรคchlich ist Handwerk eine weitaus vertracktere Tรคtigkeit, als dies die hier minimalst รผberzeichneten Extremvorstellungen suggerieren. Handwerk ist weder nostalgische Betรคtigung, wie in Werbung und Marketing suggeriert wird, noch biedere Bastelei. Vielmehr รถffnet Handwerk einen dritten Raum zwischen mechanisch-repetitiven und kรผnstlerisch-intellektuellen Tรคtigkeiten, einen Raum, in dem sich ยซPraxisยป (das selbstreferenziell-selbstgenรผgsame Handeln) und ยซPoiesisยป (das zweckgebunden-zielgerichtete Handeln) wechselseitig durchdringen. Handwerk ist, wo Herstellen und Vorstellen, Kreativitรคt und Produktivitรคt, Selbstreferenz und externer Nutzen โ nun ja โ Hand in Hand gehen. Diese mittlere Position des Handwerks deutete sich auf sozialer Ebene bereits in der griechischen Frรผhantike an. Wie Richard Sennett in seinem Buch ยซHandwerkยป (2008) erlรคutert, bildeten Handwerker zu Homers Zeiten die Mittelschicht. In der Hierarchie gesellschaftlicher Funktionssysteme standen sie zwischen den Sklaven, die zu jeder Art von Arbeit, insbesondere kรถrperlicher, gezwungen werden konnten, und den freien Bรผrgern, die sich einzig zu politischer, also geistiger Arbeit bemรผssigt fรผhlten. Wรคhrend die damalige soziale Ordnung den Bรผrgern als eine weitestgehend unverbrรผchliche und natรผrliche galt, wรคre es heute, in Zeiten hรถherer sozialer Mobilitรคt, falsch, sich das Handwerk wie ein Glied in einer Kette vorzustellen. Eher markiert es einen dynamischen, sich stรคndig verschiebenden Bereich auf einem Kontinuum, das sich zwischen mechanisch-repetitiven Tรคtigkeiten und solchen, die man in idealistischeren Zeiten als den unsrigen ยซschรถpferischยป nannte, erstreckt. Die รbergรคnge zwischen den Bereichen sind gradueller, fliessender Art โ wie es Kunst gibt, die mit Aktivismus flirtet, und Kunst, die sich von jeglicher Vereinnahmung distanziert, gibt es Handwerk, das sich der Kunst nรคhert, und solches, das mechanisch-repetitiver Arbeit nรคher steht.
Dewey als Korrektiv
Eine solche Sicht auf das Handwerk vertrat auch der US-amerikanische Philosoph und Pรคdagoge John Dewey, der massgeblich die Lehre am Black Mountain College inspirierte. Dewey unterteilte die Welt nicht in eherne Kategorien, die gemeinhin eher etwas รผber das komfortable Weltbild der Unterteilenden verraten als รผber die Wirklichkeit selbst. In seinem Buch ยซKunst als Erfahrungยป (1934), einer Synthese seiner รberlegungen zur รsthetik, spielt stattdessen die Idee des Kontinuums eine zentrale Rolle. Kunst und Alltag, Kunst und Technik, Kunst und Handwerk verstand Dewey nicht als diskrete Einheiten โ gleichsam im digitalen Modus โ, sondern als Bereiche des besagten Kontinuums. Kontinua sind, um im Bild zu bleiben, von analogem, also stufenlosem Charakter. Wenn etwa ein Arbeiter ยซachtsam und liebevollยป verfรคhrt, geht seine Arbeit aus Deweys Sicht in die Kunst รผber. Mehr noch, in der รคsthetischen Erfahrung wird die Trennung zwischen Subjekt und Objekt wenigstens teilweise suspendiert. Ein Objekt รคsthetisch zu erfahren bedeutet, bis zu einem gewissen Grad selbst dieses Objekt zu werden. รsthetische Erfahrung ist implizit Ekstase: Aus-sich-Heraustreten. Das gilt nicht nur fรผr die Rezeption, sondern auch fรผr die kรผnstlerische Produktion: ยซBeim Kรผnstler decken sich Denk- und Arbeitsmedien, und die Begriffe liegen so nahe beim Objekt selbst, dass sie unmittelbar mit ihm verschmelzen.ยป Analog dazu, im buchstรคblichen wie im รผbertragenen Sinne, verhรคlt es sich mit dem Handwerk. Gute Handwerker bearbeiten nicht nur Materialien und Objekte, sie arbeiten auch MIT ihnen, ja sind ein Teil von ihnen. Mithin arbeiten sie immer auch an sich selbst.
Wenn Kunst รผberdies darin besteht, ยซStoffe, die stammeln oder in der gewรถhnlichen Erfahrung gar sprachlos sind, in beredte Medien zu verwandelnยป, dann ist Handwerk der erste Schritt in diese Richtung: Transformation, Veredelung der vorgefundenen Realitรคt. Im Kompositum ยซHandwerkยป ist dieser Doppelcharakter bereits angelegt: Einerseits ist da die physische ยซHandยป, andererseits das geistig konnotierte ยซWerkยป. All das hat, wie man unschwer erkennen wird, weder etwas mit nostalgischen Gute-alte-Zeit-Szenarien noch mit weltabgewandter Selbstgenรผgsamkeit zu tun.
In mancherlei Hinsicht ist Deweys Buch heute nicht mehr aktuell. Etwa wenn er den Kapitalismus dafรผr kritisiert, Kunst und Leben getrennt zu haben. Mittlerweile ist das Gegenteil eingetreten โ in der kapitalistischen Kreativwirtschaft ist man bestrebt, Kunst und Leben, Kunst und (Arbeits)alltag in eine produktive Allianz zu bringen. Auch Deweys These, dass Kunst nur in Verbindung mit Emotionen denkbar und erfahrbar sei, ist fragwรผrdig geworden. Seine Grundprรคmisse aber, nรคmlich die dynamische All-Verbundenheit sรคmtlicher menschlicher Tรคtigkeiten; seine Betonung der Verflochtenheit von manueller und intellektueller Praxis wie auch Poiesis; sein Philosophieren in Kontinua statt in starren Kategorien โ all das stellt ein Korrektiv zum Denken und Handeln jener dar, die nicht nur im technologischen Bereich mit der binรคren Logik von Nullen und Einsen liebรคugeln.