ยซDas wird durch die Decke gehen!ยป So und รคhnlich lautete das Echo auf die Prรคsentation, die Anna Lisa Martin-Niedecken diesen Frรผhling an der FIBO in Kรถln, der weltweit grรถssten Fitnessmesse, gehalten hatte. Vor 400 CEOs hatte die Jungunternehmerin am Branchentreffen darรผber geredet, wie sie sich die Zukunft der Fitnessindustrie vorstellt: Auf wissenschaftlicher Forschung basierende und individuell anpassbare Games bieten Fitnessfans ebenso wie Sportscheuen Training, das Spass macht und Kรถrper und Geist optimal fordert. Doch nicht nur dies: Multimediale Erfahrungen in sogenannten Cubes lassen die Gamer in neue Welten eintauchen โ als Mitglieder einer internationalen Community spielen sie mal alleine, mal mit oder gegen Freunde auf der ganzen Welt. Dass die Rednerin mit den innovativen Ideen von einer Kunsthochschule kommt, habe die Neugierde des Publikums zusรคtzlich geweckt, erinnert sich Martin-Niedecken: ยซEiner meiner Vorredner war Rainer Schaller, der CEO von McFit Global, ich war an diesem Forum schon ein wenig eine Exotin.ยป
Woher kommt diese Frau, die der Fitnessbranche eine Innovationsspritze verpassen will? Nach einem Freiwilligen Sozialen Jahr in einer orthopรคdischen Klinik studiert Martin-Niedecken Sportwissenschaft an der TU Darmstadt. Begleitend arbeitet sie bei einer Fitnessstudiokette als Therapeutin und Trainerin. Im Jahr nach Studienabschluss besucht sie ein sportwissenschaftliches Seminar zum Thema Serious Games: ยซEs war die Zeit, als die Nintendo Wii und viele Fitnessspiele rausgekommen sind. Das Thema lag in der Luft.ยป Ihr kรผnftiger Doktorvater fragt sie, ob sie nicht Lust hรคtte, sich in einem Doktorat mit digitalen Sportspielen zu beschรคftigen. Wรคhrend ihres PhD-Studiums lernt sie an einer Konferenz einen Game-Design-Dozenten der ZHdK kennen. Von ihm erfรคhrt sie spรคter, dass das Institut fรผr Designforschung der ZHdK einen Senior Researcher im Bereich bewegungsbasierte Games sucht โ sie bewirbt sich und erhรคlt die Stelle.
Immer dem Glitzern in den Augen nach
2014 stรถsst Martin-Niedecken in einem wissenschaftlichen Paper auf das Konzept des ยซDual Flowยป. Damit ist ein Zustand gemeint, in dem sich ein Individuum sowohl auf der motorischen als auch auf der kognitiven Ebene in Balance befindet: Es wird nicht unter- und nicht รผberfordert. Die junge Forscherin hat eine Eingebung: ยซEs braucht ein bewegungsbasiertes Game, das den Spieler genau in dieser doppelten Balance hรคlt.ยป Zwischen diesem Gedanken und dem realisierten Spiel stehen ยซgefรผhlt 1 000 000 Absagenยป von Stiftungen und anderen Institutionen, die Martin-Niedecken fรผr die Finanzierung der Forschung und der Entwicklung eines solchen Spiels zu gewinnen sucht. Es ist schliesslich der Sportfonds des Kantons Zรผrich, der das Potenzial erkennt und sie aktiv unterstรผtzt. 2015 dann die Zusage, dass das Projekt in die Nachwuchsfรถrderung des Instituts fรผr Designforschung der ZHdK aufgenommen wird. Zusammen mit Koboldgames, einem von ZHdK-Absolventinnen und -Absolventen gegrรผndeten Game-Studio, entwickelt Martin-Niedecken ยซPlunder Planetยป, ein bewegungsbasiertes Spiel fรผr Kinder, ein sogenanntes Exergame.
Spรคtestens als an der Berner BEA 2017 innerhalb weniger Tage 50 000 Messebesucherinnen und -besucher Plunder Planet spielen wollen und die Nachwuchsforscherin wieder und wieder die Frage ยซWieso kann ich das nicht kaufen?ยป beantworten muss, wird ihr klar: ยซIch muss was machen!ยป Sie holt ihren Mann, einen Finanzspezialisten und leidenschaftlichen FIFA-Gamer, den bestens vernetzten Personal Trainer und Bewegungswissenschaftler Dave Baucamp sowie den Fitness-Business-Developer Helko Roth als Mitgrรผnder ins Boot. Zusammen entwickeln sie ein Businesskonzept und suchen und finden einen Investor. Ihr Start-up sphery hat die Fitnessbranche und den Trend hin zur Gamification verschiedener Erfahrungen im Blick: ยซWir wollen mit personalisierbaren Exergames und immersiven Raumkonzepten die Generation Y, die Digital Natives ansprechen und ins Fitnessstudio holenยป, sagt die zum CEO gewordene Sportwissenschaftlerin. Fรผr die Game-Entwicklung zustรคndig ist abermals das im Badener Technopark ansรคssige Game-Studio Koboldgames: ยซSie brennen fรผr dieselbe Sache und hatten von Anfang an dieses Glitzern in den Augen, das ich bei allen sehen will, mit denen ich zusammenarbeite.ยป
Entwicklung mit der Zielgruppe
Als Businessfrau zu agieren sei noch etwas ungewohnt, erzรคhlt Martin-Niedecken: ยซDas Grรผn hinter den Ohren muss mรถglichst schnell weichen. Die Unterstรผtzung durch das Z-Kubator-Fรถrderprogramm der ZHdK und meine Businesspartner ist in dieser Hinsicht sehr wertvoll.ยป Der Zeitplan der Jungunternehmer ist ehrgeizig: Sie starten mit einem Pop-up in Zรผrich, im Frรผhling 2019 soll dann bereits der eigene Flagship-Store erรถffnet werden. Es gehรถrt zum Business- und Kommunikationskonzept von sphery, die Zielgruppe ab dem ersten Spielprototyp in die Entwicklung der Produkte miteinzubeziehen und eine Community aufzubauen, die mit dem Unternehmen wรคchst. Auch der wissenschaftliche Ansatz gehรถrt zur Unternehmens-DNA und wird weiterverfolgt: ยซWir gleisen gerade Kooperationen mit verschiedenen Universitรคten und Hochschulen auf, so auch mit der ZHdK; wir wollen in allen Bereichen mit den relevanten Expertinnen und Experten im Gesprรคch seinยป, so Martin-Niedecken. Sie selbst wolle weiterhin an der ZHdK forschen, unterrichten und mentorieren, auch wenn die Doppelbelastung gross sei und ihre Tage und Wochenenden mit Fachkonferenzen, Pitch-Trainings und Start-up-Treffs mehr als ausgebucht seien. Es ist ihre Mission, aus der sie die Energie dazu holt: ยซWir wollen zeigen, dass Games nicht nur etwas fรผr Couch Potatoes sind, sondern zum Sport motivieren kรถnnen! Ich will erleben, dass Exergames olympisch werden!ยป