Annina Maria Jaggy: Wie wรผrdest du die Begriffe ยซKunstยป und ยซHandwerkยป bezรผglich eurer Zusammenarbeit mit Menschen in Konfliktregionen verorten?
Dagmar Reichert: An der ZHdK und in weiten Teilen der westlichen Welt dominiert die Auffassung, dass Kunst und Handwerk zwei verschiedene Tรคtigkeiten sind, die unterschiedliche Funktionen in der Gesellschaft einnehmen und divergierende Berufsfelder hervorbringen. Wir kรถnnen jedoch nicht einfach davon ausgehen, dass man dies รผberall so sieht. Im Rahmen unseres Weiterbildungsangebots CAS Arts and International Cooperation sensibilisieren sich die Teilnehmenden in Hinblick auf ihre Arbeit in Konfliktregionen fรผr solche kulturellen Unterschiede.
Wie kommt es, dass uns die Unterscheidung zwischen Handwerk und Kunst oft so selbstverstรคndlich erscheint?
In der Geschichte Europas ist sie schon alt. Die Trennung von Handwerk und Kunst entstand im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Hofkunst. Durch Anstellungen bei Adligen und Pรคpsten konnten sich einzelne Handwerker aus den Zรผnften und deren strikten Regeln befreien.
Aber nicht รผberall auf der Welt ist die geschichtliche Entwicklung so verlaufen.
รberhaupt nicht, deshalb ist es fรผr die internationale Zusammenarbeit wichtig, kรผnstlerische Arbeit so zu fassen, dass die Definition auch fรผr andere Kulturen angemessen ist. In meiner Arbeit bei artasfoundation versuche ich von einem Kunstbegriff auszugehen, der, so meine ich, in allen Regionen der Welt produktiv verwendet werden kann: Kunst hat etwas mit รคsthetischer Erfahrung zu tun โ das ist fรผr mich der zentrale Begriff.
Das heisst, es spielt keine Rolle, durch welche Kultur man geprรคgt ist โ so lange man Dinge oder Ereignisse auf รคsthetische Weise betrachtet, kann Kunst entstehen?
Ja. Sicher bleibt dann noch die Frage, wer sich in einer Gesellschaft einen solchen รคsthetischen Zugang zur Welt in welchem Ausmass leisten kann, wer von Alltagsnotwendigkeiten genรผgend absehen kann, um รคsthetische Erfahrungen zu machen. Ich glaube, dass alle Kinder, egal, wo sie aufwachsen, das Potenzial in sich tragen, solche Erfahrungen zu machen. Wahrscheinlich ist dies fรผr ihr Lernen auch notwendig. Leider wird es ihnen aber vielerorts schon frรผh abgewรถhnt oder die Lebensumstรคnde lassen es nicht zu. Aber wenn Kunstschaffende Kinder dazu einladen, geht diese ยซTรผr zur Weltยป rasch wieder auf: Im Rahmen des Tskaltubo Art Festival in Georgien zum Beispiel haben 12- bis 13-Jรคhrige, die in schwierigen Verhรคltnissen aufwachsen und in der Schule eher zum Nachahmen vorgegebener Normen angehalten werden, in einem Workshop aus gefundenen Materialien ganz frei kleine Figuren entworfen (siehe Fotos). Dies hat ihnen viel Freude gemacht, und sie waren wohl selbst รผberrascht von ihren Werken. In solchen Workshops verbinden sie sich wieder mit ihren eigenen Fรคhigkeiten und schlagen eine Brรผcke vom Materiellen zum Ideellen: Vielleicht kann dies dazu beitragen, dass Menschen in von Krieg oder รถkonomischem Zusammenbruch geprรคgten Regionen fรผr das eigene Leben neue Mรถglichkeiten sehen.
Inwiefern ist eure Arbeit und euer Engagement politisch?
Kunst ist politisch, weil sie Mut zu eigenen Sichtweisen und Interpretationen machen kann. Hier liegt Potenzial fรผr gesellschaftliche Verรคnderung. Das ist gerade in Wiederaufbauphasen nach kriegerischen Konflikten nรถtig, wenn es gilt, die Beziehungen zwischen den Menschen wiederherzustellen und gemeinsam neue Formen des Zusammenlebens auszuhandeln. Daneben โ das ist gรคngige Praxis โ kann kรผnstlerische Arbeit auf einer individuellen Ebene zur Bewรคltigung traumatischer Erfahrungen beitragen.
Kannst du uns von einer konkreten Zusammenarbeit in einer Konfliktregion erzรคhlen?
Wir arbeiten zum Beispiel in der Region Abchasien im Sรผdkaukasus, die unter einem ungelรถsten politischen Konflikt leidet und noch stark von ihrer sowjetischen Vergangenheit geprรคgt ist. In Projekten mit Kรผnstlerinnen und Kรผnstlern, mit Menschen ohne kรผnstlerischen Hintergrund und auch mit Kindern schaffen wir mit Partnern vor Ort Freirรคume fรผr Kunst, fรผr รคsthetische Erfahrung. Im Rahmen des letzten Weiterbildungskurses CAS Arts and International Cooperation haben wir in Abchasien mehrere solcher Projekte und Projektpartner besucht und gemeinsam mit ihnen verschiedene Mรถglichkeiten der Weiterfรผhrung der Projekte diskutiert. Ob solche Freirรคume fรผr รคsthetische Erfahrung in unserem Sinn ยซhandwerklichยป oder ยซkรผnstlerischยป geprรคgt sind, ist dabei zweitrangig. Wichtig ist die Einladung zu รคsthetischer Erfahrung.