Caroline Sรผess: Nach Japan fliegt man รผblicherweise zwanzig Stunden. Warum hast du dich fรผr eine zehntรคgige Reise auf dem Land- und Wasserweg entschieden?
Benjamin Frey: Primรคr, weil ich Flugreisen nicht mit meinem Gewissen vereinbaren kann. Auch sah ich die Chance, auf diesem Reiseweg ein besseres Gefรผhl fรผr die Distanz und eine grรถssere Wertschรคtzung fรผr meine Destination zu gewinnen.
Die Atmosphรคre in der Transsibirischen in drei Stichworten?
Begegnungen, รberraschungen, Abenteuer.
Warst du offline?
Selbstverstรคndlich.
Womit hast du die Tage verbracht?
Ich hatte Hรถrbรผcher dabei, wollte lesen, schreiben und Japanischvokabeln bรผffeln. Gekommen bin ich aber nur zu Letzterem. Die vielen Eindrรผcke waren erfรผllend genug.
Was wurde auf der Reise weniger?
Das Zeitgefรผhl.
Was wurde mehr?
Die Bindung zu den Mitreisenden. Zusammen eine Woche in einem Zug zu stecken, schweisst schon zusammen.
Was beschรคftigte deine Mitreisenden?
Ich traf oft auf russischsprachige Menschen aus der Ukraine. Der Ukrainekonflikt war da schon ein Gesprรคchsthema.
Was war das Anstrengendste auf deiner Reise?
Mit Sicherheit die kleinen Kinder. Ich habe sonst selten mit Kindern zu tun. Doch ich wurde auf dieser Reise etwas fรผr den Umgang mit ihnen sensibilisiert und lernte, mit ihrem Verhalten โ beispielsweise dem hรคufigen Geschrei โ umzugehen.
Hat dir die Reise Stoff fรผr deine kรผnstlerische Arbeit geliefert?
Neben dem Erlebnis an sich waren die Gerรคusche total inspirierend. Die ganze Reise war ein Zusammenspiel aus Klรคngen. Beispielsweise hielt der Zug mitten in der Nacht plรถtzlich an, und man schien in der Stille zu schweben.
Wie war es, in Wladiwostok das Schiff nach Sakaiminato zu betreten?
Es herrschte Aufbruchstimmung, und es fรผhlte sich surreal an, tatsรคchlich bald anzukommen.
Wie hast du deine Ankunft in der Metropole Kyoto erlebt?
Ich kam per Autostopp vor Mitternacht an. Obwohl ich mich in Kyoto und Japan schon etwas auskannte, war es wieder dieselbe Reizรผberflutung wie bei frรผheren Reisen. Bei der Ankunft fรผhlt man sich fremd und unbeholfen.
Kรถnnte man Japan als Land bezeichnen, in dem die Kultivierung des Weniger eine lange Tradition hat?
Im historischen Kern trifft dies durchaus zu. In der modernen Gesellschaft ist es aber nur noch in Feinheiten erkennbar. Leider regieren auch hier รberfluss, Konsumterror und die Wegwerfgesellschaft. Auf manche Neuankรถmmlinge mรถgen die รผppigen Eindrรผcke berauschend wirken โ ich empfinde sie jedoch als ermรผdend, vor allem auf lange Sicht.
Was gibt es weniger in Japan als in der Schweiz?
Eindeutig Platz. Was die Menschen hier alles in einem einzelnen Zimmer unterbringen kรถnnen, ist schon erstaunlich.
Wovon gibt es zu viel?
Beziehungsdefinitionen. Ich verarbeite das Thema gerade in einem Projekt.
Welche japanische Eigenart mรถchtest du in deinen Schweizer Alltag integrieren?
Vor dem Essen faltet man die Hรคnde und sagt: ยซItadakimasuยป, wรถrtlich: ยซIch empfange demรผtig.ยป Man wรผrdigt dabei die Taten und Umstรคnde, die zu dieser Mahlzeit gefรผhrt haben.