Psychophysische Disposition für Berufsalltag und Bühne
In der angewandten Musikphysiologie spielt die Erarbeitung einer individuellen Disposition als einer ausdrucks- und bühnengeeigneten psychophysischen Arbeitsteilung eine zentrale Rolle. Angesichts der Komplexität der Anforderungen beim Musikmachen kann es sicher nicht um eine einzige Form von Disposition gehen, sondern vielmehr um vielfältige an das jeweilige Handlungsziel angepasste Bereitschaftszustände in Gehirn, Nervensystem, Atmungs- und Bewegungsorganen. Die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Muskelgruppen und die Koordination von Körperposition, Atmung, Bewegung sowie mentaler und emotionaler Fokussierung spielt sich auf der Bühne, in einer Prüfung, bei einem Wettbewerb oder bei einem Fernseh- oder Rundfunk-Livemitschnitt auf einem ganz eigenen Energie- und Spannungsniveau ab und braucht eine spezielle Art von Balance. In der Auftrittssituation bezieht sich unter der entsprechenden Stresseinwirkung die psychophysische Selbstorganisation zudem auch auf den Inhalt der Präsentation und auf die Kommunikation mit dem Publikum. Anstelle von pauschaler Lockerheit ist daher eine dosierte Spannung am richtigen Ort in funktionell günstig positionierten Körperregionen erstrebenswert. Häufig jedoch bezeichnen Musiker:innen ihre als physiologisch optimal angenommene Aktivität umgangssprachlich als «locker» oder «entspannt», um das traditionell negativ besetzte Wort «Spannung» zu vermeiden. Ein Kompetenzgefühl auf der Bühne mit Freiheit für inhaltlich-künstlerische Themen setzt voraus, dass viele der genannten Abstimmungsleistungen weitgehend unbewusst und automatisiert beziehungsweise reflexhaft zur Verfügung stehen. So ist zum Beispiel bei Instrumentalist:innen und Sänger:innen die Beziehung zwischen Tonvorstellung und entsprechend dosierter Bereitschaftsspannung von entscheidender Bedeutung.
Für die musikphysiologische Lehre bedeutet das Gesagte, dass aus der Fülle der meist nicht speziell für Musiker:innen konzipierten Körperschulungs- und Therapieverfahren eine berufsspezifisch und individuell geeignete Auswahl von Übungen und Strategien getroffen werden muss.